Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten
sind als sie.› Sie sind allen möglichen äußeren Einflüssen unterworfen. Wie alles andere können sie zu Handelsobjekten werden. Politik, Kommerz, Tauschhandel – all das spielt im Umfeld der Reliquien eine Rolle.»
In der komplexen Ökonomie der politischen Einflussnahme wurde ein Dorn aus der Krone Christi in Frankreich zum kostbarsten aller königlichen Geschenke. Gegen Ende des 14. Jahrhunderts gelangte ein solcher Dorn in den Besitz eines mächtigen französischen Fürsten, des Herzogs Johann von Berry, und wir können mit Sicherheit annehmen, dass die Reliquie im Britischen Museum ihm gehörte. Sie trägt sein Wappen in Email und zeigt das, womit er sich am liebsten beschäftigte: Er gab einige der größten religiösen Kunstwerke seiner Zeit in Auftrag, und das Sammeln von Reliquien war seine Leidenschaft. In seinem Besitz befanden sich der, wie er behauptete, Ehering der Jungfrau Maria, ein Becher, der bei der Hochzeit zu Kanaan benutzt worden war, ein Splitter vom Brennenden Dornbusch und die vollständigen sterblichen Überreste eines der unschuldigen Kinder, die auf Geheiß von Herodes ermordet worden waren. Er war darüber hinaus ein begeisterter Erbauer von Burgen, und so verwundert es nicht, dass der Sockel unserer Reliquie ein Schloss aus massivem Gold ist. Dieser Reliquienschrein ist zweifellos ein Glanzstück der mittelalterlichen Metallbearbeitung in Europa, aber bedauerlicherweise können wir nicht sagen, ob er zu den wertvollsten Gegenständen in Johann von Berrys Sammlung gehörte. Der größte Teil dessen, was seine Goldschmiede geschaffen hatten, wurde, als die Engländer 1415 nach der Schlacht von Agincourt Paris besetzten, innerhalb weniger Monate nach seinem Tod konfisziert und eingeschmolzen. Dass es diesen Reliquienschrein heute noch gibt, heißt, dass ihn der Herzog vor seinem Tod verschenkt haben muss.
Wir wissen nicht mit Sicherheit, wem er die Reliquie schenkte,aber 1544 gehörte sie zum Staatsschatz der Habsburger Kaiser in Wien, und von hier aus trat sie – als Gold, Email und Edelsteine allmählich wertvoller und interessanter wurden als der bescheidene Dorn, den sie bargen – ihre Reise zur Verweltlichung an. In den 1860er Jahren wurde ein betrügerischer Antiquitätenhändler mit ihrer Restaurierung beauftragt, der, anstatt die Reparaturarbeiten auszuführen, eine Fälschung herstellte, diese an die Habsburger zurückschickte und das Original für sich behielt. Schließlich erwarb der Patriarch des Wiener Zweiges der Rothschilds die echte Reliquie, und Ferdinand von Rothschild hinterließ sie 1898 dem Britischen Museum als Teil des Waddesdon-Vermächtnisses, einer Sammlung, die heute einen eigenen kleinen Saal des Museums einnimmt.
Salomon und die Königin von Saba im Mittelfeld eines Fensters der Sainte-Chapelle.
Man könnte den Dornenreliquienschrein fast als kleines Museum in sich bezeichnen, ein unvergleichlich verschwenderisches allerdings, das nur ein einziges, auf Saphir und hinter Bergkristall gebettetes, auf Email beschriftetes Ausstellungsstück enthält. Doch sein Zweck ist der gleiche wie der eines jeden Museums: einem wunderbaren Objekt eine würdige Kulisse zu bieten. Wir wissen nicht genau, wie sich Besucher den Ausstellungsobjekten im Britischen Museum nähern, aber viele sehen in der Dornenreliquie immer noch ihre ursprüngliche Bedeutung als Gegenstand der Andacht und Kontemplation.
Die Verehrung der Dornenkrone selbst ist auch heute noch sehr lebendig. Napoleon traf die Entscheidung, dass sie auf Dauer in der Kathedrale Notre-Dame aufbewahrt werden sollte, und hier wird die vollständige Dornenkrone, von der unser Dorn vor über 600 Jahren abgebrochen wurde, an jedem ersten Freitag im Monat von Scharen andächtiger Gläubiger bestaunt.
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Ikone des Triumphes der Orthodoxie
Tempera und Blattgold auf einer Holztafel, aus Konstantinopel (Istanbul), Türkei
1350–1400 n. Chr.
Was tut ein Weltreich, wenn ihm Eroberung und Zerstörung drohen? Es kann sich im Innern bewaffnen und Verbündete von außerhalb suchen; noch schlauer aber handelt es, wenn es seine Geschichte neu schreibt und einen Mythos erfindet, der das Volk eint und zum Sieg trägt, einen Mythos, der allen beweist, dass die Geschichte eben dieses Land auserkoren hat, für Recht und Gerechtigkeit einzustehen. Genau das taten die Franzosen 1914 und die Engländer 1940. Eine solcherart neu ersonnene Geschichte kann unter bestimmten Umständen ungeheuer effektiv sein. Als dem christlichen
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