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Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten

Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten

Titel: Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neil MacGregor
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Frage zu beantworten, müssen wir weitere 700 Jahre zurückgehen. Wenn man bedenkt, welche bedeutende Rolle Ikonen in der Gottesverehrung des orthodoxen Christentums spielen und mit welcher Inbrunst sie beschrieben werden, kann man kaum glauben, dass sie in der orthodoxen Kirche 150 Jahre lang nicht nur verboten waren, sondern mit Bedacht aufgespürt und mutwillig vernichtet wurden. Um 700 stand das Byzantinische Reich im Begriff, den Heerscharen eines neuen Glaubens, des Islam, zu unterliegen. In deutlicher Unterscheidung zum Christentum verbot der Islam religiöse Abbilder – und es war ein alarmierend erfolgreicher Glaube. Hatte das Christentum den falschen Weg eingeschlagen? War das der Grund, warum die militärischen Feldzüge ständig scheiterten? Plötzlich warf, wie Diarmaid MacCulloch erklärt, die Verwendung von Bildern in der Kirche eine fundamentale Frage auf:
    «Darf man Gott abbilden oder nicht? Der gewaltige Streit, der in Byzanz um diese Frage entbrannte, ist einer dieser klassischen Fälle, in denen sich eine einfache Debatte plötzlich zum Politikum entwickelt. Er spaltete das Reich in zwei Teile. Das Byzantinische Reich war mit einem gewaltigen Trauma konfrontiert, dem Islam, der aus dem Nichts kam und das Reich in Trümmer schlug. Natürlich fragten sich die Byzantiner: ‹Was soll das alles? Warum begünstigt Gott diese Muselmanen, die aus dem Nichts gekommen sind?› Weil ihnen am Islam vor allem auffiel, dass er keine Bilder Gottes kannte, hielten sie das für eine mögliche Erklärung. Sie glaubten, das Byzantinische Reich könne die Gunst Gottes zurückgewinnen, wenn das Christentum darauf verzichtete, Bilder von ihm zu fertigen. Das scheinteiner der Beweggründe für die Zerstörung von Bildern und Ikonen im Byzantinischen Reich gewesen zu sein.»
    So fegte in den Jahren nach 700 ein Sturm ikonoklastischer Gewalt über die orthodoxe Kirche hinweg. Der Glaubensstreit dauerte über ein Jahrhundert und erwies sich als ausgesprochen komplex. Die einfachen Menschen aber hielten im Großen und Ganzen an ihren Ikonen fest, und im Jahr 843 wurde schließlich, auch dank der Unterstützung der weiblichen Mitglieder der kaiserlichen Familie, die Bilderverehrung durch Kaiserin Theodora wiederhergestellt. Das Ereignis wird als Triumph der Orthodoxie gefeiert, weil es diese Verehrung wieder in den Mittelpunkt orthodoxer Glaubensausübung in Byzanz rückte und zu einer unverzichtbaren Voraussetzung für den Bestand und das Wohlergehen des Byzantinischen Reiches erklärte. Und tatsächlich gelang es dem Reich, sich die islamische Gefahr noch ein weiteres halbes Jahrtausend lang vom Leib zu halten. Als die Gefahr daher von neuem und stärker als zuvor aufflammte, war es nur zu verständlich, dass die Machthaber in Konstantinopel die Menschen aufforderten, sich auf die große Stunde von 843 zurückzubesinnen, als der Glaube wiederhergestellt und das Reich gerettet worden war, und aus der Vergangenheit Trost zu schöpfen, während sie einer schreckenerregenden Zukunft entgegenblickten. 1370 richtete man zur Feier des Triumphes der Orthodoxie einen Festtag ein, und wenig später wurde unsere Ikone gemalt.
    Dargestellt sind darauf Kaiserin Theodora und die große Restauration von 843. Die Kaiserin steht neben der Muttergottes mit Kind, und sie wird begleitet von ihrem Sohn Michael. Beide tragen eine kostbare Kaiserkrone auf dem Haupt. In der unteren Hälfte des Bildes stehen elf Heilige und Märtyrer aufgereiht, zusammengedrängt, als würden sie für ein Gruppenfoto posieren. Einige halten Ikonen in den Händen, wie Preise, die ihnen gerade verliehen wurden. Um 1400 wäre jedem Betrachter klar gewesen, dass hier Heilige abgebildet waren, die im Kampf um die Wiederherstellung der Ikonenverehrung zu Märtyrern geworden waren. Die Namen aller Heiligen sind säuberlich in roter Farbe vermerkt. Meine Lieblingsfigur ist die Heilige am linken Rand. Es handelt sich um Theodosia, die einzige Frau in der Gruppe, eine muntere Nonne, die hingerichtet wurde, weil sie einen Polizisten getötet hatte. Sie hatte gesehen, wie ein kaiserlicher Palastwächter eine Leiter hinaufkletterte, um ein Christusbild vom Palasttor abzuhängen;darauf hatte sie die Leiter weggestoßen, und der Mann war zu Tode gestürzt. Klar, dass man sie umgehend hinrichtete.
    Was dem Betrachter um 1400 möglicherweise nicht bewusst gewesen wäre, ist die Tatsache, dass einige dieser Märtyrer 843 noch gar nicht geboren waren. Die Ikone des Triumphs der

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