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Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten

Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten

Titel: Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neil MacGregor
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drängen sich an den Rändern der Platte, und in der Mitte thront, in viel größerem Maßstab dargestellt, Shiva selbst – dass es Shiva ist, sehen wir daran, dass er sein Wahrzeichen, den Dreizack, in der Hand hält und dass sein Fuß auf dem Kopf des heiligen Stieres ruht, der oft als sein Reittier fungiert. Der Künstler hat Shivas Körper in expressivem Hochrelief herausgearbeitet, so dass der Besucher seine physische Gegenwart immer stärker empfindet, je näher er kommt. Die Plastik soll dazu dienen, den Betrachter dem Gott nahe zu bringen, sie soll ihn gewissermaßen in die Lage versetzen, mit diesem Zwiesprache zu halten. Der hinduistische Priester und Theologe Shaunaka Rishi Das erklärt:
    «Die physische Gegenwart des Bildes hilft dem Betrachter, seine Gedanken auf einen Punkt zu konzentrieren und zu dem zu gelangen, was im Hinduismus als Darshana bezeichnet wird, also das Göttliche zu schauen. Man bringt das Göttliche in sein Leben, indem man in den Tempel geht, man sieht das Bild, das die göttliche Gegenwart ist, man verneigt sich vor dem Bild, man bringt Opfergaben wie Nahrungsmittel oder Weihrauch dar, man spricht Gebete oder erfreut sich einfach an der Gegenwart des Gottes.
    Man kann einen Gott beispielsweise in sein Heim bringen, und wenn er dann da ist, mitten im Wohnzimmer, dann schreit man sich nicht gegenseitig an, dann tut man keine Dinge, die man in Gegenwart eines Gottes nicht tun würde – was eine nicht geringe Herausforderung unseres falschen Ich ist. Verehrer der Gottheit entwickeln dann ihr wahres Ich – das eines ewigen Dieners des Göttlichen.»
    Obwohl unsere Skulptur also unzweifelhaft für einen sehr öffentlichen Ort, nämlich für einen Tempel, geschaffen wurde, drückt sich in ihr die fortgesetzte Verbindung des Einzelnen zu Gott aus. Die Begegnung mit dieser Skulptur ist nur ein Teil der Beziehung zum Göttlichen, eine Form der Zwiesprache, die vielleicht im Tempel ihren Anfang nimmt und dann zu Hause fortgesetzt wird. Mit dem Betrachten des Bildes beginnt ein täglicher Austausch, der sich schließlich auf alle Bereiche im Leben des Gläubigen auswirkt.
    Doch unsere Skulptur zeigt Shiva nicht allein: Auf seinen Schoß geschmiegt sitzt seine Gattin Parvati, um die er zärtlich einen seiner vier Arme gelegt hat. Beide sind mit einem Lendentuch bekleidet, ihr Oberkörper ist nackt, und sie tragen schwere Halsketten und einen reich verzierten Kopfputz. Die Ehegatten, einander zugewandt und sich liebevoll in die Augen blickend, sind so miteinander beschäftigt, dass sie das Gewimmel, das sie umgibt, überhaupt nicht wahrnehmen. Ihre Gefühle füreinander spiegeln sich in den Tieren, die ihnen zu Füßen liegen: Shivas Stier blickt ebenso hingerissen drein wie sein Herr und Meister, und Parvatis Löwe erwidert den Blick mit einem scheuen Lächeln. Angesichts der starken erotischen Spannung, die das Relief ausstrahlt, könnte man sich ohne Weiteres vorstellen, dass Shiva und Parvati jeden Moment zu einer noch engeren Umarmung verschmelzen. Doch nein – oder zumindest noch nicht –, denn das Paar erwartet Gäste oder, genauer gesagt, Anbeter. Vermutlich befand sich unsere Skulptur am Tempeleingang, wo sie Familien beim Betreten des Gotteshauses willkommen hieß, und Opfergaben wurden nicht nur für Shiva, sondern auch für Parvati abgelegt, dargebracht als Huldigung für die beiden als göttliches Paar.
    Dieses sinnlich heitere Bild zeigt nicht einfach ein vorbildliches Paar, dem jeder Ehemann und jede Ehefrau nacheifern könnte: Die Shiva-und-Parvati-Skulptur ist eine Meditation über das Wesen des Göttlichen selbst, denn sie sind ein und dieselbe Person, verkörpert in zwei verschiedenen Gestalten. Shaunaka Rishi Das bemerkt dazu:
    «Gott ist männlich und weiblich zugleich. Dahinter steht der Gedanke, dass Gott nichts Geringeres sein kann als die Menschen. Gott kann unmöglich nicht-weiblich sein, weil es hier Frauen gibt. Also muss Gott einen weiblichen Aspekt haben.
    Parvati ist eine gute Ehefrau, die es nicht mag, wenn man sich über ihren Gattenlustig macht. Also müssen Gläubige darauf achten, dass sie sich zuerst an Parvati und dann erst an Shiva wenden. Das wird als angemessenes und gefahrloses Verhalten angesehen. Aber beide sind ausgesprochen großmütig. Es gehört nicht viel dazu, sie zu erfreuen, und sie sind verschwenderisch mit ihren Gaben.»
    Es ist insbesondere die Gegenwart Parvatis, die nicht-hinduistische Betrachter irritieren könnte, vor allem solche,

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