Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten
Orthodoxie zeigt eine ganze Gesellschaft, die mit einem Kunstwerk ihre Vergangenheit neu definiert und Gott um die Sicherung ihrer Zukunft bittet. Bill Viola schreibt über dieses packende und eindringliche Bild:
«Es ist ein außergewöhnliches, innovatives Bild, das auf wahrhaft geniale Weise die endliche Welt der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft mit dem ewig Göttlichen vereint. In meinen Augen hat das Bild, so wie es vom Konzept des Rahmens im Rahmen Gebrauch macht, fast etwas Postmodernes. Es zeigt Ikonen innerhalb der Ikone, Bilder innerhalb des Bildes.»
Der Triumph der Orthodoxie – gefeiert mit einem Festtag und einer Ikone – konnte den Bestand des Byzantinischen Reiches nicht sichern. 1453 eroberten die Türken Konstantinopel und machten es zur Hauptstadt des Osmanischen Reiches, und aus der mächtigen Kathedrale Hagia Sophia wurde eine Moschee. Das Machtgleichgewicht der Welt verschob sich. Doch auch wenn der byzantinische Staat untergegangen war, blieb die orthodoxe Kirche bestehen. Der Glaube, der in unserer Ikone Ausdruck fand, war stark genug, dafür zu sorgen, dass die Traditionen des orthodoxen Christentums, deren zentraler Aspekt die Ikonenverehrung war, auch unter muslimischer Herrschaft weiter bestehen konnten. Das Byzantinische Reich war vergangen, doch die Orthodoxie lebte fort, und so feiern orthodoxe Christen in aller Welt am ersten Sonntag der Fastenzeit das Ereignis, das auf unserer Ikone dargestellt ist: den Triumph der Orthodoxie, ein Fest, bei dem das Bild und die Musik der menschlichen Stimme sich zu einem überwältigenden Ausdruck der Sehnsucht nach Gott vereinen.
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Shiva-und-Parvati-Skulptur
Steinstatue, aus Orissa, Indien
1100–1300 n. Chr.
Wer im Britischen Museum arbeitet, erlebt so manche Überraschung, zum Beispiel die, dass wir gelegentlich vor hinduistischen Skulpturen ehrerbietig abgelegte Opfergaben wie Blumen oder Früchte finden. Auch das ist ein eindrucksvolles Zeugnis dafür, dass religiöse Gegenstände ihren Weihecharakter nicht verlieren, wenn sie in ein weltliches Museum gelangen – und es erinnert uns daran, dass in der Volkszählung von 2001 fast fünf Prozent der englischen und walisischen Bevölkerung den Indischen Subkontinent als Herkunftsort ihrer Familie angegeben haben.
Das alles ist Teil einer langen gemeinsamen Geschichte, die manchmal gewalttätig war und immer sehr tief ging. Über Jahrhunderte hinweg waren die Engländer von den Kulturen Indiens fasziniert und bemühten sich mit mehr oder weniger Erfolg, sie zu begreifen. Für einen Europäer des 18. Jahrhunderts war das größte Rätsel Indiens der Hinduismus, eine Religion, die irritierenderweise für ein entsagungsvolles Asketentum, zugleich aber auch für die ausschweifendste körperliche Lust eintrat. Warum waren manche Hindutempel im Gegensatz zu den Kathedralen in England reich mit erotischer Kunst ausgeschmückt? Statt unerträgliche Qualen über sich ergehen lassen zu müssen wie der Gott der Christen, schienen die hinduistischen Gottheiten ihren sexuellen Gelüsten freien Lauf zu lassen. Um 1800 beschloss ein gewisser Charles Stuart, die Briten müssten dazu gebracht werden, den Hinduismus ernsthaft zu studieren und ihm die gebührende Bewunderung entgegenzubringen. Im Rahmen seiner Kampagne legte er eine Sammlung indischer Tempelkunst an und zeigte sie in Ausstellungen; eines dieser Stücke ist die Skulptur, die hier vorgestellt wird.
Sie stammt aus Orissa, einem dicht besiedelten Bundesstaat im Nordosten Indiens am Golf von Bengalen. Um 1300 war Orissa ein wohlhabendes und hoch entwickeltes hinduistisches Königreich, in dem prachtvolle Tempel zu Tausenden errichtet wurden. Es war die Blütezeit der sakralen Architektur in Orissa, und die größte Bewunderung wurde den Bauwerken mit der aufwendigsten Ornamentik entgegengebracht. Die meisten dieser Tempel waren dem Gott Shiva geweiht. Die Bewohner von Orissa betrachten Shiva – einen der drei wichtigsten Götter des Hinduismus, den Gott der Gegensätze, den Gott, der auf ewig schöpft und zerstört – als den Herrn ihres Landes. In Shiva sind alle Gegensätze vereint.
Unsere Skulptur stammt aus einem der vielen Shiva-Tempel in Orissa. Es handelt sich um eine zwei Meter hohe und einen Meter breite Steinplatte, die vielleicht ursprünglich einmal leuchtend bunt war, heute aber in tiefem Schwarz schimmert. Es wäre kaum möglich, noch mehr ornamentales Schmuckwerk darauf unterzubringen. Dutzende kleiner Gestalten
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