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Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten

Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten

Titel: Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neil MacGregor
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die Wabash Land Company angefertigt, eine Siedlungsgesellschaft, die zu dem Zweck gegründet worden war, in den Jahren 1774 und 1775 Land entlang des Wabash von den Piankishwa aufzukaufen. Malcolm Lewis, der sich mit Landkarten und nordamerikanischen Kulturen beschäftigt, erläutert:
    «Höchstwahrscheinlich wurde sie im Zusammenhang mit Verhandlungen eines Handelsunternehmens aus Philadelphia angefertigt, das Interesse daran hatte, in einer Gegend am Wabash, die heute das Grenzgebiet zwischen Indiana und Illinois bildet, Land zu erwerben. Dazu wurde diese Karte benötigt, auf der die Grenzen des Gebiets eingezeichnet sind, das für den Kauf vorgesehen war. Die Verhandlungen wurden schließlich abgebrochen, weil Amerika an der Schwelle zum Unabhängigkeitskrieg stand. Die Karte wurde also wahrscheinlich 1774 oder 1775 im Zusammenhang mit dem geplanten Landkauf am Wabash gezeichnet und verwendet. Die indianische Handschrift ist unverkennbar, alle Merkmale einer indianischen Landkarte sind vorhanden. Flüsse weisen zum Beispiel keine Biegungen auf, ihr Verlauf ist fast immer gerade … ganz sicher wurde die Karte in den Kaufverhandlungen mit den Piankishwa benutzt.»
    Der Vermerk «Piankishwa verkauft» deutet darauf hin, dass die Karte einen bereits abgeschlossenen Kaufvertrag dokumentiert, der allerdings von der britischen Kolonialverwaltung nicht abgesegnet war. Das Geschäft verstieß gegen die offiziellen Verträge. In jedem Fall ist unklar, was der Verkauf für die Piankishwa bedeutete.Die Wabash-Gesellschaft nahm die Dienste von Dolmetschern in Anspruch, aber beim Übersetzen ging vieles verloren:
    «Sie haben eidesstattlich erklärt, dass sie bei den Verhandlungen mit den Häuptlingen verschiedener Stämme hinsichtlich des oben erwähnten und im vorgenannten Bericht näher erläuterten Landverkaufs als Dolmetscher gedient haben … die besagten Zeugen haben in ihrem Amt als Dolmetscher nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt und den Häuptlingen treulich und eindeutig erklärt … worunter sie eigenhändig ihr gewohntes Zeichen gesetzt haben.»
    Zwar heißt es in dem Bericht, den Häuptlingen sei alles «treulich und eindeutig» erklärt worden, aber die Piankishwa konnten unmöglich eine Vorstellung davon haben, was ein Landverkauf im europäischen Sinne bedeutete. Besitzansprüche an das Land waren den amerikanischen Ureinwohnern vollkommen fremd; für sie war das Land im wörtlichen wie im metaphysischen Sinn eine Geburtsstätte – kein Territorium, das man an andere übertragen oder verkaufen konnte.
    Auf der Karte sind vor allem Flüsse verzeichnet. In der Mitte, quasi dem Rückgrat des Hirsches folgend, verläuft der Wabash – darum der Name Wabash Land Company. In ihn münden, die Wirbel des Rückgrats bildend, von beiden Seiten im spitzen Winkel Flüsse, die als gerade Linien gezeichnet sind. Nur der Mississippi zieht sich am rechten Rand der Karte von oben nach unten, wo er sich in weitem Schwung nach rechts wendet. Die Karte zeigt die Flüsse, an denen sich die Menschen versammeln, nicht das Land, das sie auf der Jagd durchstreifen. Sie erzählt vom Leben in der Gemeinschaft statt von geographischen Gegebenheiten, von praktischen Gewohnheiten statt von Grenzen des Besitzes. Anders als eine Karte der Londoner U-Bahn zeigt sie nicht die wirklichen Entfernungen zwischen bestimmten Punkten an, sondern vielmehr die Zeit, die man braucht, um von hier nach dort zu gelangen. Die amerikanischen Ureinwohner haben, wie alle anderen auch, das kartographiert, was ihnen wichtig war. Interessanterweise sind auf der Karte zwar alle Flüsse verzeichnet, aber nur die Orte, an denen amerikanische Ureinwohner lebten. Es ist keine einzige von Europäern gegründete Siedlung zu sehen, nicht einmal die Stadt St. Louis, die zu dieser Zeit bereits ein wichtiges Handels- und Verkehrszentrum war. Bei europäischen Karten des gleichen Gebiets verhält es sich genau umgekehrt: Hier sind die europäischen Siedlungen verzeichnet, die indianischendagegen als nicht genutzte Flächen ausgewiesen. Zwei vollkommen unterschiedliche Auslegungen der gleichen physischen Erfahrung: Besser könnte man ein zentrales Problem der Aufklärung – die Schwierigkeit einer Gesellschaft, die andere zu begreifen – nicht veranschaulichen.
    War den amerikanischen Ureinwohnern der Gedanke an privaten Landbesitz unbegreiflich, so konnten die Europäer die tiefe innere Beziehung der Indianer zu ihrem Land nicht verstehen, die Vorstellung, dass der

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