Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten
Vermächtnisse gelegt, die uns bis heute begleiten. Sie entwickelten die grundlegenden Vorstellungen darüber, wie ein Herrscher richtig regiert, wie Herrscher ihr eigenes Bild konstruieren und wie sie ihre Macht nach außen darstellen können. Sie demonstrierten auch, dass ein Herrscher tatsächlich das Denken der Menschen verändern kann. Der indische Führer Ashoka der Große übernahm ein riesiges Imperium und wurde dank der Überzeugungskraft und Stärke seiner Ideen zum Begründer einer Tradition, die auf direktem Wege zu den Idealen Mahatma Gandhis führt und noch heute höchst lebendig ist – einer Tradition pluralistischer, menschenfreundlicher, gewaltloser Staatskunst. Diese Vorstellungen stecken auch in unserem Objekt. Es ist ein Stück Stein, genauer: Sandstein, und es hat in etwa die Größe eines gerundeten Ziegelsteins – kein wirklich hinreißender Anblick, aber es öffnet die Tür zur Geschichte einer der bedeutendsten Gestalten der Weltgeschichte. Auf dem Stein finden sich zwei Zeilen Text, eingeritzt in runden, staksig wirkenden Lettern – mitunter hat man früher von der «Strichmännchenschrift» gesprochen. Diese beiden Zeilen sind die Überreste eines deutlich längeren Textes, der ursprünglich in eine große, runde Säule eingeritzt war, die rund neun Meter hoch war und einen Durchmesser von knapp einem Meter hatte.
Säulen wie diese ließ Ashoka überall in seinem Reich aufstellen. Sie waren architektonische Meisterleistungen und fanden sich am Straßenrand ebenso wie in den Stadtzentren – so wie heute Statuen unsere öffentlichen Plätze schmücken. Doch diese Säulen unterscheiden sich von den Säulen der klassischen Antike, dieuns in Europa vertraut sind: Sie hatten keine Basis und waren von einem Kapitell in Form von Lotusblüten gekrönt. Auf den berühmtesten Säulen des Ashoka finden sich ganz oben vier Löwen, die Rücken an Rücken stehen und den Blick nach außen gerichtet haben – Löwen, die noch heute zu den Wappentieren Indiens gehören. Die Säule, von der unser Fragment stammt, war ursprünglich in Meerut aufgestellt, einer Stadt nördlich von Delhi, und wurde Anfang des 18. Jahrhunderts durch eine Explosion im Palast eines Moguls zerstört. Doch viele ähnliche Säulen sind erhalten geblieben, und sie stammen aus dem gesamten Reich Ashokas, das einen Großteil des Subkontinents umfasste.
Diese Säulen waren eine Art System öffentlicher Bekanntmachung. Auf ihnen sollten Verkündigungen oder Edikte Ashokas eingeritzt sein, die dann in ganz Indien und darüber hinaus verbreitet werden konnten. Wir wissen heute, dass auf den Säulen sieben wichtige Erlasse als Inschriften angebracht wurden, und unser Bruchstück stammt von der «Säule des sechsten Edikts»; es erläutert Kaiser Ashokas wohlwollende Politik gegenüber jeder Sekte und jeder Gesellschaftsschicht in seinem Reich:
«Ich überlege, wie ich meinem Volk Glück verschaffe, nicht nur meinen Verwandten oder den Bewohnern meiner Hauptstadt, sondern auch denen, die weit entfernt leben. Ich handle allen gegenüber auf die gleiche Weise. Ich kümmere mich in ähnlicher Weise um alle Teile der Bevölkerung. Darüber hinaus habe ich allen religiösen Sekten verschiedene Ehrungen zuteil werden lassen. Für meine vorrangige Pflicht aber halte ich es, die Menschen persönlich zu besuchen.»
Irgendjemand muss den meist des Lesens unkundigen Bürgern diese Worte vorgelesen haben, die von ihnen vermutlich nicht nur mit Freude, sondern auch mit beträchtlicher Erleichterung aufgenommen wurden, denn Ashoka war nicht immer so sehr auf ihr Wohl bedacht gewesen. Er hatte nicht als freundlicher und großzügiger Philosoph begonnen, sondern als rücksichtsloser und brutaler junger Mann, der in die militärischen Fußstapfen seines Großvaters Chandragupta trat; dieser hatte den Thron nach einem Feldzug bestiegen, mit dem er ein riesiges Reich begründet hatte, das von Kandahar (im heutigen Afghanistan) im Westen bis Bangladesh im Osten reichte. Es umfasste auch den Großteil des heutigen Indien und war das größte Imperium in der indischen Geschichte.
Im Jahre 268 v. Chr. folgte ihm Ashoka auf dem Kaiserthron, allerdings nichtohne heftige Auseinandersetzungen. Buddhistische Schriften berichten davon, dass er dafür «neunundneunzig seiner Brüder» umbrachte – womit vermutlich nicht nur leibliche, sondern auch metaphorische Brüder gemeint sind. Die gleichen Schriften schufen auch die Legende, wonach Ashokas
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