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Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten

Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten

Titel: Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neil MacGregor
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vorbuddhistisches Leben voller ausschweifender Frivolität und Grausamkeit gewesen sei. Kaum auf dem Thron, machte er sich daran, die Besetzung des gesamten Subkontinents zu vollenden, und griff den unabhängigen, am Golf von Bengalen gelegenen Staat Kalinga an, das heutige Orissa. Es war ein grausamer, brutaler Überfall, und er scheint Ashoka anschließend in einen Zustand tiefsten Bedauerns und schrecklicher Reue versetzt zu haben. Er änderte jedenfalls seine gesamte Lebensweise und übernahm das Gesetz des Dharma, einen tugendhaften Pfad, auf dem der, der ihm folgt, zu einem Leben in Selbstlosigkeit, Frömmigkeit, Pflichtbewusstsein, Wohlverhalten und Anstand gelangt. Das Konzept des Dharma findet sich in zahlreichen Religionen, unter anderem bei den Sikhs, im Jainismus und natürlich im Hinduismus – doch Ashokas Vorstellung von Dharma war durch den buddhistischen Glauben gefiltert. Er brachte in einem Edikt sein Bedauern gegenüber seinem Volk zum Ausdruck und verkündete seine Bekehrung:
    «Acht Jahre nach seiner Krönung eroberte der König Devnāmpriya Priyādarsin [der Geliebte der Götter] das Land der Kalinga. 150.000 Menschen wurden damals verschleppt, 100.000 Menschen wurden erschlagen und eine vielfache Anzahl starb. Danach aber, nach der Eroberung des Landes der Kalinga, ergab sich der König dem Studium des Dharma …
    Darin zeigt sich das Bedauern des Devānampriya über die Eroberung des Landes der Kalinga. Denn er betrachtet es als schmerzlich und beklagenswert, dass die Eroberung eines fremden Landes von Gemetzel, Tod und Verschleppung begleitet ist.»
    Von nun an machte Ashoka sich daran, sich selbst zu erlösen – und seinem Volk die Hand zu reichen. Zu diesem Zweck verfasste er seine Edikte nicht in Sanskrit, der klassischen Sprache im Altertum, die später zur offiziellen Landessprache werden sollte, sondern im jeweiligen lokalen Dialekt, der im Alltag gesprochen wurde.
    Mit seiner Konversion schwor Ashoka dem Krieg als Mittel staatlicher Politik ab und betrachtete die menschliche Güte als Lösung für alle Probleme dieserWelt. Zwar war er von den Lehren des Buddha beeinflusst – und sein Sohn war der erste buddhistische Missionar in Sri Lanka –, doch machte er den Buddhismus nicht zur Staatsreligion. Ashokas Staat war in einem ganz dezidierten Sinne säkular. Der indische Ökonom, Philosoph und Nobelpreisträger Amartya Sen meint dazu:
    «Der Staat muss gegenüber allen Religionen Distanz wahren. Der Buddhismus wird nicht zur offiziellen Religion. Alle anderen Religionen müssen toleriert und respektvoll behandelt werden. Säkularismus in seiner indischen Form bedeutet also nicht ‹Religion spielt für die Regierung keine Rolle›, sondern ‹keine Bevorzugung einer bestimmten Religion gegenüber einer anderen›.»
    Religionsfreiheit, Bezwingung des Selbst, die Notwendigkeit, dass alle Bürger und politischen Führer anderen zuhören und über Ideen diskutieren, Menschenrechte für alle, für Männer wie für Frauen, und die Bedeutung, die Bildung und Gesundheit zugemessen wird – die Vorstellungen, die Ashoka in seinem Reich propagierte, spielen bis heute eine zentrale Rolle im buddhistischen Denken. Noch heute gibt es auf dem indischen Subkontinent ein Königreich, das nach buddhistischen Prinzipien regiert wird: das kleine Königreich Bhutan, das zwischen Nordindien und China förmlich eingequetscht ist. Michael Rutland ist Bürger Bhutans und Honorarkonsul seines Landes im Vereinigten Königreich. Er beriet auch den früheren König, und ich fragte ihn, wie Ashokas Ideen in einem modernen buddhistischen Staat umgesetzt werden konnten. Er begann seine Antwort mit einem Zitat:
    «‹Während meiner gesamten Regentschaft werde ich euch nicht als König regieren. Ich werde euch wie ein Vater beschützen, für euch sorgen wie ein Bruder und euch dienen wie ein Sohn.› Das könnte von Kaiser Ashoka stammen. Doch es ist nicht von ihm. Es handelt sich vielmehr um ein Zitat aus der Rede des 27 Jahre alten fünften Königs von Bhutan, die er anlässlich seiner Krönung 2008 hielt. Der vierte König, derjenige, dem ich beratend zur Seite stehen durfte, lebt bis heute in einer kleinen Holzhütte. Es gibt keinerlei monarchischen Pomp. Er ist vermutlich das einzige Beispiel für einen absoluten Monarchen, der sein Volk von sich aus dazu aufgefordert hat, ihm die Machtbefugnisse zu nehmen, und eine Wahldemokratie eingeführt hat. Der vierte König führte auch die Wendung vom

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