Eine glückliche Ehe
Süßwarenkiosk eine große Schachtel Pralinen zu kaufen.
Pralinen hat Mutter immer so gern gegessen, dachte er. Wenn sie Geburtstag hatte, oder zu Weihnachten oder zu Ostern … immer haben wir ihr eine große Schachtel Pralinen geschenkt. Vater und ich. Als dann Vater starb und ich in der Lehre war, habe ich es genauso gehalten. Sie hat immer ihre Pralinen bekommen und ein Stück nach dem anderen aus der Schachtel gepickt – bis auf die Marzipanpralinen, die sie merkwürdigerweise nicht mochte. Die bekamen dann wir. Und jetzt lebt sie in Lübeck, der Marzipanstadt …
Er ließ die große Schachtel, die größte, die Berta Hasslick je in ihrem Leben bekommen haben dürfte, besonders festlich einpacken, mit Schleife und so, und wartete dann auf dem Bahnsteig, bis der Zug nach Lübeck einlief. Als er einstieg, spürte er sein Herz klopfen, als sei er ein Verbrecher auf der Flucht.
Dr. Schwangler in Köln war fassungslos. Er hatte wieder angerufen und vom Chefportier des Hotels die Auskunft bekommen, die Wegener hinterlassen hatte. Emil Zyllik, den Schwangler auch sprechen wollte, war nicht greifbar. Auch er war vor ein paar Minuten aus dem Hotel gegangen.
»Er ist tatsächlich da!« sagte Schwangler zu René Seifenhaar. »Er hat eine Konferenz! Was zum Teufel ist das?! Seit einundzwanzig Jahren sind wir Freunde, und plötzlich spielt er den großen Geheimnisvollen! Ich fliege morgen früh mit der ersten Maschine nach Hamburg. Der Sache muß ich auf den Grund gehen!«
»Und wenn es sich doch um eine Frau handelt?« fragte Seifenhaar.
»Dann muß es sich um eine Art Wunderfrau handeln, weil er sie mir verschweigt. Dann wird es gefährlich, gefährlicher als bei Elietta, wo er auch schon bereit war, alles hinzuwerfen und nur noch im Sündenpfuhl zu leben! Ein Hüpfer hier, ein Stößerchen da … machen wir die Augen zu! Aber wenn er anfängt, Irmi und die Kinder in die Pfanne zu hauen, muß man ihm die Vernunft ins Hirn zurückklopfen! Und das werde ich. Darauf kannst du einen lassen …«
Dr. Schwangler rief noch siebenmal an. Immer das gleiche: Herr Wegener ist außer Haus. Auch Zyllik war nicht da. Er hockte in einer kleinen Bar in der Nähe des Hans-Albers-Platzes, hatte ein Mädchen auf dem Schoß und war bereit, sich diesen Abend bis zu hundert Mark kosten zu lassen. Einen solchen Schein hatte ihm Wegener während der Fahrt in die Tasche gesteckt. Wortlos. Gratifikation für Hamburg. Es gibt noch Chefs mit menschlicher Anteilnahme.
Das Altersheim in der Kesselstraße bestand aus mehreren Gebäudekomplexen und glich einem Krankenhaus oder einer Kaserne. Zwischen den einzelnen Wohnblocks hatte man Rasenflächen und Buschgruppen gepflanzt, Wege gezogen und Bänke aufgestellt: eine kleine Welt für sich, ein Warteplatz mit Blumen – Abstellgleis des Lebens.
Wegener ließ sich mit dem Taxi bis vor das Verwaltungsgebäude fahren. Er bezahlte, klemmte das Paket mit der großen Pralinenschachtel unter den Arm und machte sich auf die Suche nach Block V. An den Hausecken standen die Ziffern mit weißer Ölfarbe, große Zahlen, die niemand übersehen konnte.
Block V, Zimmer 34. Berta Hasslick. Zweiundachtzig Jahre alt.
Mutter.
Vor Block V blieb er stehen und sah die Fensterreihe entlang. Dahinter, hinter einem dieser Fenster, lebt sie noch! In einem Zimmerchen, von der Fürsorge bezahlt. Ein Leben, das ein geduldiges Warten auf den Tod ist. Und eine winzige Hoffnung: die Zeile im Suchblatt des Roten Kreuzes. Ihren Sohn Peter sucht Berta Hasslick …
Verschollen in Rußland. Vermißt beim großen Rückzug im Mittelabschnitt. An der Rollbahn.
Hellmuth Wegener preßte die Pralinenschachtel an sich. Warum zögerst du? dachte er. Du widerliches feiges Schwein, da oben wohnt deine Mutter! Aber du stehst hier unten und bist Hellmuth Wegener, und die Angst hängt dir wie Blei am Hals, daß dieses Wiedersehen zerstören könnte, was du in all den Jahren geschaffen hast. Du hast, was du jetzt an Bildung besitzt, systematisch in dich hineingefressen, du hast die Klassentreffen überstanden, du hast dir eine neue Schrift zugelegt, sogar eine Narbe, du hättest auch Dr. Velbert geschafft, du hast sie alle besiegt, belogen, getäuscht, geblendet: Das ist Hellmuth Wegener. Aber da oben, diese zweiundachtzig Jahre alte Frau, ist deine Mutter. Sie kannst du nicht täuschen … Und damit ist Hellmuth Wegener tot, und Peter Hasslick lebt weiter. Los, geh hinauf, du feiger Hund!
Er ging um das Haus herum und wurde in seinen
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