Eine glückliche Ehe
Frau zu mir: ›Sie heißen Goldstein, Herr Professor? Kann ich mit Ihnen frei sprechen? Sie haben doch Schweigepflicht wie ein Priester? Kann ich bei Ihnen eine Art Beichte ablegen?‹ Und ich antworte: ›Natürlich! Ein Arzt muß auch immer ein bißchen Priester sein!‹ Und die Frau sagt weiter: ›Herr Professor, ich war einmal Aufseherin im KZ Flossenbürg. Das weiß keiner. Ich habe jetzt einen anderen Namen. Und ich glaube, in Flossenbürg hatten wir ein paar Insassen, die hießen Goldstein. Kann das sein? Ich … ich muß Sie danach fragen!‹ – Ich war wie vor den Kopf geschlagen. In Flossenbürg sind meine Mutter, meine Schwester und meine Schwägerin umgebracht worden …«
»Mit dem Gas von meinem Onkel Axel Hellebrecht«, sagte Wegener kaum hörbar.
»Vielleicht.« Goldstein schloß die Augen. »Die Frau hatte es mir gesagt, ich muß schweigen, weil es eine Beichte war, aber ich hatte nicht mehr die Nerven, das mit mir herumzutragen. Deshalb habe ich …« Er schwieg mit einem Seufzer und atmete tief durch. »Nun haben sie mich doch noch erwischt, die Nazis …«
»Wer ist die Frau?« fragte Wegener heiser.
»Das darf ich Ihnen nicht sagen! Trotz allem nicht! Ich ersticke an meinem ärztlichen Ethos! Nun wissen Sie es. Bitte, tun Sie nichts, Herr Kollege! Vielleicht fange ich mich wieder. Es ist eine Qual, so sensibel zu sein, glauben Sie's mir! Ich bewundere Ihre Kraft!«
Nachdenklich verließ Wegener das Zimmer der Intensivstation. Er bewundert meine Kraft, dachte er, aber er kennt nicht meine ständige Angst. Auch das zermürbt. Die Vergangenheit ist immer um einen, man sieht es an Goldstein. Man kann ihr sein Leben lang nicht entfliehen, man schleppt sie immer mit sich herum. Hundert unbekannte Faktoren können die Katastrophe auslösen.
Angst! Es gibt keine Kraft, die die Angst besiegt. Wer das behauptet, ist ein Lügner.
Professor Goldstein starb nicht unter dem Sauerstoffzelt. Man entließ ihn nach drei Wochen. Er war fröhlich, gab sogar für den Ärztestammtisch einen Bierabend in seiner Villa, hielt einen Vortrag in Genf und fuhr dann in den Urlaub. Er wählte die Insel Capri, um sich das Haus ›San Michele‹ seines Kollegen Axel Munthe anzusehen.
Und auf Capri geschah es dann. Am Rande eines Felsens, der senkrecht ins Meer abfiel, rutschte er aus und stürzte hinab. Man fand seinen Körper nie, die Strömung des Meeres hat ihn weggetrieben, vielleicht hinüber nach Afrika, wo Fischer den unbekannten Leichnam gefunden haben mochten.
Zeugen sagten aus, es sei kein Selbstmord gewesen, man habe gesehen, wie er auf den glatten Steinen ausgerutscht sei. Ganz einwandfrei ein tragischer Unfall.
Wegener glaubte es nicht. Aber er sprach mit niemandem darüber, auch nicht mit Irmi oder Dr. Schwangler. Er dachte nur: Dazu gehört Mut! Ein Felsen, das Meer, vor sich die Tiefe, die Sekunde der Überwindung: Hinunter! Mein Gott, welch ein Mut gehört dazu! Ob ich ihn hätte? Ich glaube nicht. Ich hatte ja noch nicht einmal den Mut, Irmi damals in Friedland zu sagen: Du umarmst einen anderen, Hellmuth Wegener, den du erwartest, ist in Orscha auf dem Flur einer Schule verreckt … Jawohl, regelrecht verreckt! Nicht den Heldentod gestorben, denn Heldentod gibt es nicht. Das ist nur ein geradezu perverses Wort der Militärs und Politiker für zerfetzte Leiber und armselige, schreiende, für Ideen geopferte Menschen, die im Dreck, in Blut und Eiter krepieren und nicht ›Heil mein Vaterland‹ sondern ›Mutter! Mutter!‹ brüllen …
Wie oft habe ich das erlebt.
»Wir werden nie nach Capri reisen«, sagte Irmi, als der Unfall bekannt geworden war.
»Was kann Capri dafür?«
»Trotzdem …«
Bei der Trauerfeier, die die Ärztekammer abhielt, sprach auch Hellmuth Wegener. Nicht von dem Arzt, sondern von dem Menschen Goldstein. Es gab Ärzte, die dabei feuchte Augen bekamen.
»Und du kommst doch noch in die Politik!« sagte Dr. Schwangler später zu Wegener. »So etwas von Rhetorik! Du kannst ja Granit zu Knetgummi reden.«
Jeder Mensch hat sein eigenes Schicksal, und es ist immer ein ›großes‹ Schicksal, wenn man es zusammennimmt, zusammenrafft, als Ganzes betrachtet. Das Leben eines Menschen ist in seiner Vielfalt, in der Verzahnung entscheidender Situationen, in den Aufbrüchen von Leidenschaften und Leiden, Freuden und Freudlosigkeiten von einer solchen Faszination, daß jeder von uns, wenn er zurückblickt, von sich sagen kann: Ich habe ein großes Leben gehabt.
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