Eine glückliche Ehe
…«, sagte er lahm.
»Du weißt nicht, wie die damalige Zeit war, mein Junge.« Sie packte die Briefe wieder aufeinander und band das Bändchen darum. »Aber du müßtest es ahnen können, bist alt und intelligent genug, um zu wissen, was Krieg bedeutet, Rußland, jahrelange Gefangenschaft in Sibirien. Als dein Vater aus der Taiga zurückkam, war er ein anderer Mensch, obwohl er derselbe war. Ich kannte ihn kaum wieder, ich hatte ja nur seine Fotos, sein helles, lachendes Jungengesicht. Als wir uns dann in Friedland gegenüberstanden, brauchten wir ein paar Stunden, um uns zu sagen: So ist das eben! Das hat der Krieg aus uns gemacht, das hat Sibirien als Hellmuth Wegener freigegeben. Damit müssen wir uns abfinden. Aber dann war doch alles so, wie wir es uns erträumt haben. Verstehst du das, Peter.«
»Natürlich, Mama. Und die Schrift …?«
»Auch eine Handschrift kann in der Taiga verlorengehen.« Sie blickte auf das zuoberst liegende Kuvert. »Früher schrieb Pa mit einer Linksneigung der Buchstaben, heute fallen sie mehr nach rechts. Vielleicht ist es sogar ein Protest? Weg mit dem alten Leben …«
»Bestimmt ist es so.« Peter schien überzeugt zu sein. »Es war nur im ersten Moment komisch, nicht wahr, Mama?«
»Nicht komisch, Peter … Tragisch!« Sie schob das Päckchen wieder zu ihm über den Tisch. »Leg sie wieder dorthin, wo du sie gefunden hast. Und überlege einmal, was es heißt, in Sibirien zu vegetieren, ohne die Hoffnung, jemals wieder gesund nach Hause zu kommen. Und dann kam er doch, stand da, abgemagert, hohlwangig, in alten Militärkleidern, von der langen Reise schmutzig, mit fiebrigen Augen … ein Mensch, der ins Leben zurückkommt. Und wie glücklich sind wir geworden!«
»Das stimmt.« Peter nahm die Briefe an sich und umfaßte sie wie etwas ganz Zerbrechliches. »Ihr führt wirklich eine glückliche Ehe. Wenn ich da andere Paare sehe – und was mir meine Klassenkameraden von zu Hause alles erzählen, o Mannomann! Da ist was los! Eure glückliche Ehe ist fast schon unnormal!«
»Siehst du, mein Junge«, Irmi lächelte mild. Wenn sie so still lächelte, hatte sie etwas Madonnenhaftes an sich. Und wenn sie mit diesem Lächeln sprach, nahm man es als endgültig, als eine Art Offenbarung hin. »Wie unwichtig ist es da, ob Pa früher linkslastig und jetzt rechtslastig schreibt. Ob sein K anders aussieht und sein F nur drei Striche sind, während er es früher mit einem Schnörkel verzierte. Hängt daran ein Mensch?«
»Schon vergessen, Mama.« Peter stand auf. »Ihr seid überhaupt eine Generation, die etwas von einem Chamäleon an sich hat.«
»Danke, mein Sohn!«
»Das soll kein Tadel sein, Mama. Aber – warum hat Pa eigentlich nicht weiter Medizin studiert? 1948 war das doch längst möglich.«
»1948 kamst du zur Welt.«
»Deswegen kann man doch studieren!«
»Die Apotheke war wichtiger, Junge. Pa sollte dir mal alles erzählen, ihr habt ja keine Ahnung, was es heißt, in solchen Zeiten zu überleben! Und außerdem: Pa war völlig mit den Nerven fertig.«
»Sibirien.«
»Wenn du dieses eine Wort begreifst, mein Junge, hast du viel von unserer Generation begriffen!«
»Euren Massenirrsinn mit Hitler wird niemand begreifen.«
»Und wie verhalten sich die Chinesen unter Mao Tse Tung?!«
»Das ist etwas ganz anderes. Das ist eine soziale Revolution, die die Welt beispielhaft verändern wird.«
»Als wir siebzehn waren, dachten wir von Hitler genau so! Jedes Volk, jede Generation hat ihre Probleme, ihre guten oder falschen Vorbilder, ihre Tragödien und Sternstunden, ihre geschichtlichen Irrtümer. Wir sind eben doch nur dumme Menschen!«
»Du bist klug, Mama!«
»Ich habe alles von deinem Vater gelernt. Früher wußte ich nur, wo das Aspirin liegt und in welcher Schublade die Salbe gegen wunde Füße. Weißt du, daß du einen ungeheuer klugen Vater hast?«
»Wenn er solche Fabriken auf die Beine stellen kann …«
»Das sind Äußerlichkeiten, Peter! Es gibt auch eine stille Klugheit. Aber darüber sprechen wir ein andermal.«
Am Abend – Peter hatte die Briefe längst wieder in die alte Truhe gelegt und war jetzt angeblich bei einem Freund, der ein Billard hatte, in Wahrheit aber trafen sie sich im Stadtwald mit Schülerinnen des ›Königin-Luise-Gymnasiums‹ – am Abend saßen Irmi und Hellmuth im Gartenzimmer. Er hatte, wie immer, wenn sie hier zu zweit saßen, die Beine auf einen Hocker gelegt, blickte auf den Bildschirm, trank eine halbe Flasche
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