Eine Handvoll Leben: Meine Kindheit im Gulag (German Edition)
Freundschaften mehr, niemand gönnte dem anderen seine Ration. Ja, man musste höllisch aufpassen, dass man nicht übergangen oder bestohlen wurde. Gerade ich, die ich manchmal im Stroh heimlich Vorräte anlegte, war auf der Hut, und es passierte dennoch hin und wieder, dass meine eiserne Reserve plötzlich fort war.
Die meiste Zeit kreisten die Gedanken um das, woran es so bitter fehlte. Und so war es auch nicht verwunderlich, dass ich eines Mittags, als ich mal wieder barfuß an meiner Lieblingsstelle in der Sonne stand, die kleinen hellroten Beeren entdeckte, die an einem niedrigen Strauch auf der Wiese wuchsen. Dunkelblaue Beeren kannte ich von zu Hause, also warum sollten nicht auch diese schmecken? Vorsichtig zwängte ich meinen dünnen Arm durch den Stacheldraht, zupfte ein paar Früchte ab und schob sie mir in den Mund. Mit der Zunge ließ ich sie zunächst von der linken Backentasche in die rechte wandern und wieder zurück, dann drückte ich sie gegen den Gaumen und schmeckte den köstlichen, süßsauren Saft der Früchte. Schnell pflückte ich noch mehr, aß aber selbstverständlich nicht alle sofort auf, sondern steckte mir auch welche in die Hosentasche, um sie im Stroh zu lagern. Niemandem würde ich von meiner Entdeckung erzählen, das schwor ich mir.
Von diesem Tag an lief ich häufig auf der Suche nach Beeren am Zaun entlang. Weil mir ein paar von den ersten Beeren im Stroh verschimmelt waren, ließ ich sie nun in der Sonne trocknen, bevor ich sie versteckte. So konnte ich sie auch als Vorrat für den Winter verwahren. Und je stärker die Sonnenstrahlen wurden, desto größer wurde meine Ernte, ich entdeckte sogar einen kleinen Baum mit dunkelroten, zuckersüßen Beeren. Aber hier kam ich nur an einen tiefhängenden Zweig heran, und nur wenige Früchte fielen von selbst hinunter. Als ich einmal eine ganze Handvoll von diesen Beeren gegessen hatte, lag ich die ganze Nacht mit Bauchschmerzen wach. Trotzdem sammelte ich sie weiter, denn wenn man wenige davon aß, waren sie bekömmlich. Ein großer Baum mit Beeren stand auch an einem Zaunstück, an dem entlang die Soldaten regelmäßig ihre Kontrollgänge machten. Dorthin traute ich mich nicht, auch dann nicht, als ich an den anderen Stellen kaum noch Beeren fand. Stattdessen zupfte ich nun Gras und Blätter ab, an die ich herankam, und probierte sie. Nachdem ich kräftig gekaut hatte, beruhigten die Pflanzen ein wenig meinen flauen Magen. Und ich überlegte, dass ich das Gras und die Blätter wie die Beeren trocknen könnte. Oma hatte mir einmal erklärt, dass die Bauern das Gras für die Tiere trocknen, damit diese im Winter zu essen hatten. Eifrig sammelte ich jetzt alles Essbare, das ich fand, als plötzlich ein paar schwarze Stiefel und die Pfoten eines Hundes neben mir auftauchten. Erschrocken wich ich zurück und versteckte meine Hand mit dem Grünzeug hinter dem Rücken. Der Soldat beugte sich zu mir herunter, und ich befürchtete, dass er mich am Kragen packen oder ohrfeigen wollte. Aber dann erblickte ich ein Stück Schokolade in seiner Hand. Wie lange hatte ich nichts mehr geschenkt bekommen? Ich traute mich nicht, es zu nehmen, und sah den bärtigen Mann stumm an. Er sagte leise etwas in seiner Sprache und nickte aufmunternd. Sollte ich wirklich? Ich griff zu. Der Soldat führte seine Hand zum Mund, als wollte er mir zeigen, dass ich das Stück sofort essen solle. Langsam schob ich es mir in den Mund. Während die Schokolade in meinem Mund schmolz und sich mit meinem Speichel vermischte, schaute ich auf den Hund, der gehorsam zu Füßen des Soldaten saß. Ich durfte den Hund sogar streicheln und als ich das weiche Fell berührte, musste ich sofort an Elsa denken. Ich konnte nicht genug bekommen von diesem schönen Gefühl beim Streicheln des Hundefells und vom Lutschen der Schokolade. Der Hund schnupperte an mir, und ich sah glücklich wie lange nicht mehr in diese schönen dunklen Tieraugen.
Jetzt zog der Soldat ein wenig an der Leine, und das war wohl das Zeichen für den Hund, dass es weiterging, denn er stand sofort bei Fuß. Ich holte schnell die drei kleinen Beeren, die ich heute gefunden hatte, aus meiner Hosentasche und reichte sie dem Soldaten. Er warf sie sich in den Mund, strich mir lächelnd über den Kopf und stiefelte mit seinem Begleiter davon. Ich sah ihnen nach und war traurig, dass ich nicht mehr Zeit mit dem Hund verbringen konnte. Seit Langem hatte ich endlich mal wieder ein warmes Gefühl in meinem Bauch … Ich hoffte
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