Eine Handvoll Leben: Meine Kindheit im Gulag (German Edition)
sehr, die beiden bald wiederzusehen.
Da die Sonne bereits tief am Himmel stand, lief ich hinüber zu der Stelle, an der ich auf ein paar Steinen meine Vorräte trocknete. Ich nahm die schrumpeligen Beeren und das blasse Grünzeug der letzten Tage mit und legte die frischen Früchte, Blätter und Gräser aus. »Was machst du da?«, fragte plötzlich eine Stimme hinter mir. Es war die Stimme eines schlaksigen Jungen, den ich nur flüchtig kannte. Namen tauschten wir Kinder längst nicht mehr aus, vielleicht auch, weil man nicht wusste, ob man sich am nächsten Tag noch wiedersah. Denn es wurden über Nacht immer wieder Kinder, vor allem die größeren Mädchen, gewaltsam aus den Baracken geholt. Unsere Baracke war seit Johannes Verschwinden zum Glück verschont geblieben. Keins von uns Kindern wusste, wohin die Mädchen gebracht wurden. Ob sie noch lebten, war ebenso ungewiss. Die Tatsache, dass die Kleidung der Mädchen am nächsten Tag meist an die anderen verteilt wurde, ließ uns nichts Gutes ahnen. »Ich trockne Beeren und Blätter als Vorrat für den Winter«, antwortete ich ehrlich, ärgerte mich aber zugleich, dass ich so unvorsichtig gewesen war und nicht einmal bemerkt hatte, dass ich von dem Schlaksigen beobachtet worden war. »Ha, Gras für den Winter trocknen! Hahaaa!« Der Junge fand das anscheinend komisch und pfiff seine Freunde herbei, und bald umringte mich eine Horde Jungen. »Muuuuhhhhh! Muuuuhhhh!«, rief einer, und die anderen stimmten ein. Mit gesenktem Blick, den Tränen nahe, lief ich zur Baracke und verzog mich in meine Ecke. Ich legte die getrockneten Pflanzen und Früchte in die Ecke, die ich in meinem Strohlager dafür eingerichtet hatte. Eine richtige kleine Vorratskammer, wenn auch nicht im Schrank und kleiner als die bei Oma und Opa. Pah! Sollten die Jungen doch lachen …
Es hatte sich unter den Kindern schnell herumgesprochen, dass ich Essbares für den Winter sammelte, und einige Kinder wollten wissen, welche Früchte, Blätter und Gräser sich dafür eigneten. Sie wollten sich selbst auch einen Vorrat anlegen. Obwohl ich es lieber für mich behalten hätte, zeigte ich ihnen die Stellen, wo derlei Grünzeug wuchs. Und den restlichen Sommer wollten mich auch einige Mädchen aus meiner Baracke begleiten, und wir verbrachten die Nachmittage häufiger zusammen, was mir gar nicht recht war. Denn immer mal wieder sah ich auch den Soldaten mit dem Hund, aber nur, wenn ich allein am Zaun unterwegs war und uns keiner beobachten konnte, kam er zu mir, schenkte mir ein Stück Schokolade und strich mir über den Kopf. Ich genoss diese kurze liebevolle Berührung ebenso wie mein eigenes Streicheln über das Fell des Hundes. Abends erzählte ich dann Papa im Himmel davon und bat ihn, mir den Soldaten und den Hund wieder vorbeizuschicken. Und ein paar Mal schien es auch zu funktionieren, doch dann wartete ich immer häufiger vergeblich am Zaun. Ich war traurig darüber, die beiden nicht mehr zu sehen, aber nicht übermäßig; wahrscheinlich hatte ich mich inzwischen daran gewöhnt, dass mir nichts, was mir lieb war, blieb.
Von Tag zu Tag verlor die Sonne an Kraft, und wir liefen bald wieder mit Schuhen herum. Meine jedoch waren mir über die Sommermonate zu klein geworden, sodass ich sie nur noch tragen konnte, wenn ich die Fersenkappe hinuntertrat. Ich stand hinten schon deutlich mit dem Fuß über. Immer öfter regnete es jetzt auch, manchmal stundenlang, und dann blieben wir die meiste Zeit in der Baracke und verließen sie nur für den Toilettengang. Zum Brunnen liefen wir an solchen Tagen auch nicht, sondern stellten unseren Eimer einfach nach draußen und fingen das Regenwasser auf. Als ich den Eimer eines späten Nachmittags hereinholen wollte, ließ mich lautes Gelächter aus einer entfernten Baracke aufhorchen. Was da wohl los war? Ich tippelte durch den Nieselregen um unsere Hütte und sah an der Baracke dahinter zwei Soldaten, die mehr torkelnd als aufrecht an der Tür rissen. Ich wollte mich gerade wieder abwenden und leise zurückschleichen, als sich der eine abrupt zu mir umwandte. Hatte er meine Blicke in seinem Rücken gespürt? Ich stand reglos da wie gebannt. Mir blieb die Luft weg, und mein kleiner, dünner Körper begann zu zittern. Ich erkannte das grinsende Gesicht sofort wieder. Es war der Soldat, der mir am ersten Tag im Gulag die Haare abgeschnitten und den Kopf geschoren hatte. Obwohl es schon Monate her war, sah ich noch einmal vor mir, wie er mit seiner dunkelbehaarten
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