Eine Handvoll Leben: Meine Kindheit im Gulag (German Edition)
Hand meine Goldkette packte. Ich fasste mir an den Hals, an dem damals nur ein blutiger Striemen zurückgeblieben war. So schnell ich konnte, lief ich zurück, dachte nicht einmal mehr an den Wassereimer und versteckte mich, das Gesicht auf den Knien, in meiner Ecke. Bitte, lass die Tür nicht aufgehen, bitte, bitte, lass ihn nicht wiederkommen, flehte ich ohne Stimme.
Das Poltern vor der Tür war nicht zu überhören. Mein Atem ging ganz flach, und ich sah das Grinsen wieder vor mir. Ich traute mich nicht, den Kopf zu heben, legte die Arme über die Ohren, sodass die Geräusche nur noch gedämpft bis zu mir vordrangen, und betete stumm weiter. Ein dumpfes Scheppern ließ mich vorsichtig aufblicken. Über meinen Arm hinweg erspähte ich den Jungen aus der Nachbarbaracke. Er hatte uns den Wassereimer hereingebracht. »Voller wird der nicht mehr«, sagte er zu den beiden Großen, die ihren Schlafplatz gegenüber hatten. Die drei wechselten noch ein paar Worte, die ich aber schon nicht mehr wahrnahm, so erleichtert war ich. Ich legte mich zurück auf mein Lager und schloss die Augen. Nie, nie, nie mehr wollte ich dieses grinsende Gesicht sehen. Nicht im Traum und schon gar nicht in Wirklichkeit. Und nie wieder sollte es Winter werden. Diese unbarmherzige Jahreszeit, die nicht vergehen wollte, diese Berge von Schnee, die nichts als Tod brachten. Ohne Papa, ohne Mama, ohne Oma, ohne Opa, ohne Elsa, ohne Peter, ohne eine Freundin oder einen Freund, ohne Wasser, ohne Essen, ohne Toilette. Nur eine dreckige Hütte, Kleidung und Schuhe, die zu klein geworden waren und Löcher hatten, ein leerer Blechteller, ein verbeulter Becher, ein krummer Löffel, ein paar andere vergessene Kinder und der Gestank unserer Fäkalien. Es durfte nicht mehr Winter werden – und während ich dies dachte, spürte ich die Kälte in mir, den Winter, den ich in mir trug und vielleicht nie mehr würde vertreiben können.
Als der erste Schnee fiel, lagen zwei von den Mädchen mit Schüttelfrost auf ihren Strohbetten, und wir hatten nur noch drei feuchte Holzscheite neben dem Ofen liegen. Erkältungskrankheiten und Läuse waren nichts Besonderes, aber Ingrid und Rosemarie erbrachen sich die ganze Nacht und litten an einem schweren Durchfall. Heide und ich, die wir nachts auf den Ofen aufgepasst hatten, hatten die beiden mit Lumpen zugedeckt und ihnen das restliche Wasser aus unserem Eimer zu trinken gegeben.
Am Morgen kam nach langer Zeit erstmals wieder die Frau zu uns, um uns eine dünne Suppe zu bringen. Sie roch sofort, was los war, und machte mit der warmen Mahlzeit stehenden Fußes kehrt. Kurz darauf kamen zwei Soldaten, die die kranken Mädchen aus der Hütte trugen. »Sauber machen, Kinder«, sagte die Frau und zeigte auf die Schlafstellen von Ingrid und Rosemarie. Wir anderen sprangen auf und fegten mit den Händen das Stroh zusammen, das mit Erbrochenem und wässrigem Kot getränkt war. Zum Glück gab es danach Wasser zum Händewaschen, aber der Geruch blieb auf der Haut. Während wir anderen die Suppe teilten, auch Ingrids und Rosemaries Portionen, sprachen wir nicht. Doch wir wussten alle, was den anderen jeweils durch den Kopf ging. Kein Kind war je von der Krankenstation zurückgekehrt. Vielleicht existierte diese Krankenstation ja nur in unserer Fantasie? Die Schüsse, die wenig später fielen, ließ jede von uns heftig zusammenzucken, aber keine hob den Kopf, um ja nicht einer anderen in die Augen schauen zu müssen. Ich schluckte mit der kalten Suppe die warmen Tränen hinunter.
Später am Tag hörten wir den donnernden Krach, als das große Tor geöffnet wurde. Wir liefen zum Fenster und sahen einen Lastwagen auf das Gelände fahren. Es war ein Wagen, wie er uns hierhergebracht hatte. »Wenn neue Kinder kommen, kriegen wir noch weniger zu essen«, sagte eins der großen Mädchen. Gebannt verfolgten wir, wie die Plane des Lkws gelöst wurde. Als sie die Ladeklappe hinunterließen, sprangen die Soldaten zur Seite. Ein Teil der Ladung fiel auf den regennassen Boden. Eva, die Kleinste, begann zu singen und zu hüpfen. »Keine Kinder, keine Kinder, alles nur Holz, alles nur Holz.« Wir anderen mussten lachen und freuten uns ebenfalls. »Keine Kinder, keine Kinder, alles nur Holz, alles nur Holz«, sangen wir jetzt im Chor und führten einen Freudentanz auf. Wir verstummten augenblicklich, als die Tür aufgerissen wurde und erst eine Brise Regen uns umwehte und dann ein Soldat vor uns stand. » Dawaj, dawaj!« , trieb er uns an, und
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