Eine Handvoll Leben: Meine Kindheit im Gulag (German Edition)
wir rannten hinaus. Auch aus den anderen Baracken kamen die Kinder. Wir durften uns Holz holen, mussten dabei aber geradewegs vom Wagen zur eigenen Baracke laufen, durften uns nichts zurufen und nichts fallen lassen. Jede von uns nahm so viele Scheite, wie sie tragen konnte, und warf sie vor die Hütte. Die Kleinste von uns bewachte den Haufen; wir anderen rannten hin und her. An dem Wagen war ein solches Gedränge, dass ich erst den einen und dann den anderen Schuh verlor. Ich suchte aber nicht danach, sondern lief auf den durchlöcherten Strümpfen weiter. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie zwei Jungen von Soldaten an den Ohren aus der Kindermenge gezogen und weggeführt wurden. Wahrscheinlich hatten sie sich ums Holz gestritten. Kurz darauf knallten Schüsse.
Der Wagen war fast leer, und das Gedränge hörte auf. Jetzt sah man, dass mehrere Kinder in den Pfützen vor dem Wagen lagen. Sie hatten sich im Gewühl wohl nicht mehr auf den Beinen halten können. Die umstehenden Soldaten halfen ihnen aber nicht auf, sondern machten noch Scherze über sie. Ich sah auch meine Schuhe und auch die Schuhe von anderen Kindern, traute mich aber nicht, hinzulaufen und mir welche zu holen.
Wir Mädchen waren nicht die Stärksten, aber wir hatten den kürzesten Weg vom Lastwagen zur Hütte und viel Holz zusammengetragen. Vor Erschöpfung zitternd, wollten wir das Brennmaterial nur noch schnell in Sicherheit bringen und luden uns erneut die schmerzenden Arme voll, als plötzlich zwei Soldaten zu uns herüberkamen und mit den Armen herumfuchtelten. Wir sollten mehr Holz nehmen und mitkommen. Auf kraftlosen Beinen schleppten wir Mädchen den Soldaten das Holz zu ihrer Hütte. Die Uniformierten lachten. Die Baracke, vor der wir hielten und deren Tür von innen geöffnet wurde, war voller Rauch. Der Zigarettendunst und der Geruch nach Schnaps und Männerschweiß ließen Übelkeit in mir hochsteigen. Ich wagte kaum aufzuschauen, auch aus Angst, einen der Soldaten zu sehen, die uns die Haare geschoren hatten, oder demjenigen zu begegnen, der Johanne geholt hatte. Doch meine Neugierde siegte. Ohne den Kopf merklich anzuheben, schaute ich mich um. Wie verblüfft war ich über die Größe des Raums, in dem lange Tische mit Stühlen standen, darauf Flaschen und in Papier dargebotenes Fleisch und Würste. Ob die Übelkeit vielleicht auch nur ein Zeichen von Hunger war? Ich kam nicht mehr dazu, darüber nachzudenken, wie wir vielleicht ein Stückchen Wurst erbetteln konnten, denn einer der Soldaten war von seinem Stuhl aufgesprungen, ergriff meine Hände und begann, sich mit mir singend im Kreis zu drehen. Die anderen Mädchen wichen voller Furcht zurück und flohen aus der Soldatenbaracke. Mir wurde schwindelig vom vielen Drehen, und ich sah nichts als das lachende Gesicht des Mannes, der mir bei jedem gesungenen Wort seinen alkoholschweren Atem ins Gesicht blies. Ich weiß nicht, wie lange er mich herumwirbelte. Doch mit einem Mal schien er die Lust an seinem Spiel verloren zu haben und ließ meine Hände los. Ich flog zurück und landete auf dem Boden. Um mich herum drehte sich alles weiter, gleichgültig, ob ich die Augen schloss oder sie öffnete. Ich versuchte immer wieder, mich aufzurappeln, fand jedoch weder Halt noch Gleichgewicht, bis mich plötzlich zwei starke Hände auf die Beine stellten und einen Moment lang festhielten. Vor mir kniete der bärtige Soldat, der mir im Sommer ein paar Mal Schokolade geschenkt hatte. Diesmal gab er mir ein Stück Brot und ein Stück Wurst und schob mich damit zur Tür hinaus. Vielleicht hat er mir an diesem Abend das Leben gerettet.
Im ersten Gulag-Jahr hatten wir Einsamkeit, Hunger und unvergleichliches Elend erlebt, aber der nächste Winter lehrte uns wirklich das Fürchten: Der Tod kroch durch die Baracken, kam über Nacht, stahl sich am hellen Tag hinein, und alle paar Tage wurden kranke oder leblose Kinder fortgetragen. Manche hatten sich wegen der Läuse blutig gekratzt und eitrige Geschwüre bekommen, andere erbrachen giftgrünes Wasser, wieder andere litten an blutigen Durchfällen, und nicht wenige hatten alles auf einmal. Die Kinder, die einfach vor Hunger und Schwäche nicht mehr aufwachten, fanden vielleicht einen leiseren Tod, das Sterben aber war gewiss nicht weniger qualvoll. Verstarb ein Kind in der Nacht und wir anderen bemerkten es, legten wir es draußen in den Schnee und hofften, es würde in den Himmel geholt. Und tatsächlich fanden wir am Morgen nur noch die Kleider vor der
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