Eine Handvoll Leben: Meine Kindheit im Gulag (German Edition)
stopften. Wie groß war unsere Not!
In der Nacht fand ich kaum Schlaf, weil ich Angst hatte, dass man mir den Brotlaib stehlen könnte. Ich hielt ihn fest umschlungen und versuchte wach zu bleiben, döste dann aber doch immer wieder ein und träumte sogar vom Gutshof meiner Großeltern und dem Hühnerstall, als ich wie von weit weg ein Rascheln und Kratzen hörte. Nach und nach erwachte ich und stellte fest, dass das Geräusch gar kein Traum war. Ich lauschte. Ob sich jemand über den verlausten Kopf kratzte? Wir alle hatten Läuse, und das Jucken war vor allem in der Nacht, wenn man nicht schlafen konnte, kaum auszuhalten. Aber nein, da war es wieder, erst ein Kratzen, dann ein Rascheln. »Eva«, flüsterte ich. »Eva, hörst du das auch?« Eva antwortete nicht, sie schien fest zu schlafen. Mit offenen Augen lag ich im Dunkeln und versuchte die Richtung des Geräuschs zu bestimmen, als ich meinte, ein Tier mit einem langen Schwanz zu sehen. Und da noch eins, es hielt etwas zwischen den zierlichen Pfoten und fraß. War das Brot? Von meinem Brot konnte es nichts geschnappt haben, dachte ich, als im nächsten Moment aus einer anderen Richtung etwas auf mich zugelaufen kam. Ich schrie vor Schreck laut auf.
»He, was ist los? – Was schreist du so?« Die anderen Mädchen saßen kerzengerade auf ihren Strohbetten.
»Hier sind Tiere. Sie haben lange Schwänze und fressen unser Brot!«
»Ach, Monika, Tiere mit langen Schwänzen, du träumst wohl, hier ist nicht mal ’ne Maus.«
»Ehrlich, ich hab sie gesehen. Die müssen hier irgendwo sein«, verteidigte ich mich. Die großen Mädchen kicherten. Tatsächlich war von den Tieren keine Spur zu sehen, und es war auch kein Rascheln mehr zu hören. »Jetzt lasst uns weiterschlafen«, sagte Marianne.
Am Morgen erwachte ich, auf dem Bauch liegend, das Brot unter mir. »Na, wieder von Tieren mit langen Schwänzen geträumt, die dein Brot fressen?«, rief eins der Mädchen. Die anderen lachten. »Und hatten sie diesmal auch Mützen auf?«, spottete eine andere. Doch dann rief Eva: »He, wer hat mein Brot geklaut? Es ist nur noch ein kleines Stück übrig. Gestern Abend hatte ich noch mehr als die Hälfte.« Jetzt kontrollierten alle ihre Brotreste, und tatsächlich fehlte auch bei zwei anderen Mädchen ein Teil des Brotes. »Also, wenn Monika recht hat, dann hatten wir Besuch von Ratten! Die haben nämlich lange Schwänze«, erklärte Marianne nüchtern. »Wenn bei uns auf dem Bauernhof welche waren, wurden die sofort getötet. Wenn die einen beißen, kann man nämlich schlimme Krankheiten bekommen.« Einen Moment lang herrschte Stille. Dann sprangen alle auf, und eine wilde Suche begann, doch außer Brotresten im Stroh und Löchern in den Barackenwänden fanden wir nichts. Wir verstopften die Löcher in den Wänden mit Lumpen und hofften, so den Nagetieren den Weg in die Baracke versperrt zu haben. Aber sie ließen sich nicht aussperren; wenn sie etwas zu essen rochen, fanden sie auch den Weg dorthin. Und je hungriger sie waren, desto dreister wurden sie; nicht nur einmal erwischten wir eine Ratte am helllichten Tag zwischen unseren Betten. Die Plage würde erst aufhören, wenn auch das letzte Stück Brot aufgegessen war. Ich hatte zuerst das weiche Innere aus dem Brotlaib herausgepult und lutschte noch Tage später an der Kruste. Trotz der Ratten wollte ich kein Essen vergeuden und möglichst lange davon zehren. Ich fand es fast leichter, den Rest vor den hungrigen Ratten als vor den hungrigen Kindern zu schützen. Es blieb nicht mehr bei neidischen Blicken und Fragen, ob ich von meinem Brot nicht etwas abgeben wollte. Ich erwischte immer mal wieder ein Mädchen, wie es mein Lager durchsuchte. Doch ich hatte das Brot am Körper, unter meinem Hemd versteckt. Bei meinem aufgeblähten Bauch fiel es nicht weiter auf. Jetzt aber wurden die anderen wütend, weil die Ratten wegen meiner Brotreste nachts immer noch durch die Hütte strichen. Ich befürchtete, dass die Mädchen mich bestrafen würden, und beschloss, das Brot aufzuessen. Ich brach ein großes Stück von der harten Kruste ab, den Rest steckte ich für den Moment in einen meiner Lumpenschuhe. Ich lutschte an der Kruste und aß, so viel ich konnte. Doch das Aufweichen war langwierig, und ich wurde darüber müde und schlief wohl irgendwann ein.
»Da! Da ist eine! – Und da!« Die Schreie der Mädchen ließen mich von meinem Strohlager hochfahren. »Jagt sie raus, los! Tut doch was!« Meine Lumpenschuhe lagen verstreut
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