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Eine Handvoll Leben: Meine Kindheit im Gulag (German Edition)

Eine Handvoll Leben: Meine Kindheit im Gulag (German Edition)

Titel: Eine Handvoll Leben: Meine Kindheit im Gulag (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Dahlhoff
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Wahrheit gesagt haben? Die vielen Mahlzeiten jedoch bekamen uns nicht, unsere Mägen waren das Essen nicht gewohnt. Es war ein Würgen und Brechen, aber wir wollten auch jetzt nichts den Ratten überlassen. Wer wusste denn schon, ob wir am nächsten Tag nicht wieder hungern mussten!
    An einem Morgen polterten zwei Soldaten in unsere Baracke. Ich verkroch mich tief unter meiner alten Decke. »Kinder, wascht euch, heute geht es nach Hause«, hörte ich die Frau rufen. Die Soldaten hatten jeder von uns eine saubere Decke gebracht. Die Decken stanken kein bisschen. Wir wuschen uns, wie es die Frau uns aufgetragen hatte. Aber wir freuten uns nicht; das Gefühl von Freude war uns im Gulag abhandengekommen. Und worauf sollten wir uns überhaupt freuen? Wo war unser Zuhause nach so langer Zeit? Wo wurde ich hingebracht? Zu Mama? Wo war sie denn?
    Mit den Decken bestiegen wir die Lastwagen, in denen an den Seiten lange Sitzbänke angebracht worden waren. Es gab einige Kinder, die nicht sitzen konnten, weil sie zu schwach waren. Sie wurden in die Mitte der Ladefläche auf Stroh gelegt. Ich suchte mir einen Platz in einer Ecke gleich an der Ladeklappe und hielt nach Regina Ausschau. Sie war einem anderen Lastwagen zugeteilt worden. Da, endlich hatte ich sie ausgemacht, als sie mir auch schon zuwinkte und im Inneren eines Lkws verschwand. Ich blinzelte die aufsteigenden Tränen fort.
    Kurz bevor die Planen hinuntergelassen wurden, stand wie aus dem Nichts plötzlich der bärtige Soldat an unserem Wagen. Sein Hund war diesmal nicht bei ihm. Er nickte mir lächelnd zu. »Do swidanija« , sagte er und streckte mir seine Hand entgegen. Er drückte meine schmale Kinderhand, dann starteten auch schon die Motoren.
    Ich sah zwischen den Planen hindurch zurück, das Tor hinter uns blieb geöffnet, die schäbigen Baracken erinnerten mich an die faulen Zähne des Soldaten. Mit der Fahrt wurden sie kleiner und kleiner. Als ich nicht einmal mehr schwarze Punkte am grauen Horizont sehen konnte, schloss ich die Augen und ließ mich vom Schaukeln des Lastwagens in den Schlaf wiegen.

1948
Kinderheim und Krankenhaus in der sowjetischen Besatzungszone

    M ama!«, rief ich und lief auf meine Mutter zu. Sie schaute sich um, als würde sie jemanden suchen. »Hier bin ich! … Mama? Sieh, doch, ich bin es, Monika! Erkennst du mich nicht?« Ich hatte beide Arme zum Winken in die Höhe gestreckt, aber mit einem Mal waren lauter Soldaten zwischen uns, russische Soldaten. Wollten sie mich zurück in das Lager bringen? Würden sie Mama erschießen? »Bitte, nicht! Nicht meine Mama erschießen! Ich habe doch niemanden außer ihr!«, rief ich. An den Uniformierten vorbei sah ich ihr blondes Haar, das unter der Mütze hervorschaute, einen Zipfel von ihrem Mantel, einen Stiefel. Es waren nur noch wenige Meter, die uns trennten, als ich sie von einem Wimpernschlag zum nächsten aus den Augen verlor. Mama? Dort, wo eben noch meine Mutter gestanden hatte, war jetzt die blonde Russin zu sehen. »Kind, da bist du ja«, sagte sie.
    »Wach auf, wir sind da.« Der Junge neben mir rüttelte an meiner Schulter.
    Mit schlaftrübem Blick nahm ich wahr, wie zwei Frauen in schwarzen langen Kleidern und mit weißen Tüchern um den Kopf auf den Lastwagen zugelaufen kamen. »Die Kinder, die Kinder sind angekommen!«, rief eine von ihnen unentwegt. Und im nächsten Augenblick strömten aus dem großen weißen Haus, vor dem wir gehalten hatten, noch mehr Frauen in solchen seltsamen Gewändern. Ihre Schritte gerieten ins Stocken, je näher sie kamen, und als sie vor uns standen, schlugen sie die Hände vor den Mund und betrachteten uns voller Entsetzen. Unsere von Blut und Dreck verkrusteten Gesichter, die jämmerlichen Lumpen, die schlaff an unseren ausgehungerten Körpern herabhingen … »Gütiger Himmel!« – »Die armen Würmer …« – »Das ist nur der erste Wagen …«
    »Kommt, wir helfen euch runter, Kinder«, sagte eine Stimme ganz in meiner Nähe. Erst jetzt bemerkte ich, dass die Frauen unsere Sprache sprachen. Redet weiter, hätte ich am liebsten gerufen. Ich konnte gar nicht genug von den vertrauten Wörtern bekommen.
    Die meisten von uns waren nicht in der Lage, aus eigener Kraft aufzustehen. Manche krochen oder robbten nach vorn, tatsächlich mehr wie Würmer denn als Menschenkinder, um sich von dem Wagen heben und ins Haus bringen zu lassen. Die anderen Kinder blieben sitzen und warteten. Wie ich. Ich betrachtete aus dem Wagen heraus das große weiße Haus,

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