Eine Handvoll Leben: Meine Kindheit im Gulag (German Edition)
erst einmal«, sagte sie noch. »Ich heiße Regina; wenn du mich brauchst, ruf mich einfach. Ich passe auf dich auf.«
Regina wurde meine Freundin, sie schlief immer öfter mit in meiner Ecke, passte auf mich auf, tröstete mich. Nur das Essen teilten wir nicht. Es war einfach zu wenig.
Winter wie Sommer starben Kinder. Krank, verlaust, verhungert, vergewaltigt, von Ratten angefressen, erschossen, erfroren. Uns Überlebenden ging es aber nicht etwa besser, nur weil wir insgesamt weniger wurden – bis auf die Tatsache, dass jeder Todesfall neue Lumpen bedeutete. Eine Zeit lang hatten wir vielleicht genug Wasser, mal gab es eine Sonderration Brot oder sogar für jede von uns einen Apfel, ein paar Wochen lang konnten wir uns aus einer Baracke, in der es keine Kinder mehr gab, frisches Stroh holen, im Sommer suchten wir Beeren, Blätter, Würmer und Käfer, aber die meiste Zeit gab es nichts. Und es fehlte ebenso am Nötigsten wie am Wichtigsten: einer zärtlichen Hand, die uns mal über den Kopf strich, einem liebevollen Wort. Wir waren verwahrlost – verwahrloste Körper, verwahrloste Seelen. Die Lumpen waren mit der Haut verwachsen, wir stanken nach Urin, Kot, Schweiß, Blut, Eiter und Dreck. Wer konnte, stahl dem anderen das letzte Stückchen Brot; unser Erbrochenes fraßen wir lieber selbst, bevor es sich andere Kinder oder die Ratten holten. Und gleichwohl regte sich in mir immer noch der Wunsch, dieses Elend zu überwinden. Als ich eines Tages bei einer Brotausgabe noch einmal den Soldaten mit dem Hund traf, steckte er mir heimlich ein in Zeitung gewickeltes Stück Schokolade zu. Nicht weniger als über die Süßigkeit freute ich mich über das Papier, mit dem ich mir nun den Po abwischen konnte, wenn ich Verdauung hatte. Selbst die zerrissensten Stofffetzen wusch ich im Sommer mit dem Brunnenwasser. Jedes Jahr legte ich einen Vorrat für den Winter an, obwohl ich inzwischen wusste, dass er, schon allein wegen der Rattenplage, niemals bis ins Frühjahr reichen würde.
Ich dachte vielleicht, dass ich alle Grausamkeiten und Gefahren kannte – was nicht heißen soll, dass ich die Angst verloren hätte – nein, die Angst wuchs und grub sich nur tiefer in meine Seele. Jedenfalls rechnete ich mit dem Schlimmsten, als im letzten Winter plötzlich zwei Soldaten mitten in der Nacht in unserer Baracke standen, mit den Gewehren herumfuchtelten und uns Zeichen gaben, hinauszugehen. »Dawaj, dawaj!«
»Bitte Papa, lass mich nicht allein«, flehte ich leise zum Himmel. »Ich will gern zu dir kommen, aber lass mich nicht in der Baracke der Soldaten sterben.« Regina neben mir fasste nach meiner Hand.
Noch nie waren so viele Kinder mitten in der Nacht aus den Baracken geholt worden. Ob sie uns alle erschießen wollten? Sie trieben uns mit den Gewehren vorwärts über das schneebedeckte Gelände in einen Bereich noch hinter den Soldatenbaracken, in dem ich noch nie gewesen war. Weil sich einer meiner Lumpenschuhe gelöst hatte und ich stehen bleiben musste, um ihn wieder festzubinden, ließ ich Reginas Hand los und hockte mich an die Seite. Keine Sekunde später packte mich jemand im Nacken und zog mich hoch. »Dawaj, dawaj!« , brüllte der Soldat, und ich musste mit dem offenen Lumpen weiterlaufen. Wenn nur keiner darauftrat!
Nahe einer Hütte, die einsam dastand und mehr an einen Schuppen erinnerte, warteten schon einige andere Kinder. Ich suchte nach Regina und drängelte mich nach vorn durch. Da war sie ja! Ich zupfte an ihrem Ärmel, aber sie beachtete mich nicht. Starr sah sie nach vorn. Zögernd folgte ich ihrem Blick. Ein Mädchenkörper neben und über dem anderen lag nackt im Schnee. Mädchen aus unseren Baracken; Mädchen, die die Soldaten geholt hatten; Mädchen, die Schnaps hatten trinken müssen; Mädchen, die gekotzt hatten; Mädchen, die geblutet hatten, als die Männer in sie stießen; Mädchen, die hingerichtet worden waren.
Hinter den Mädchen standen Soldaten mit Gewehren und Hunden an einem Graben, aus dem Kinder geklettert kamen. Manche mit letzter Kraft – wenn sie wieder oben waren, fielen sie erschöpft um und lagen unweit der Toten im Schnee. » Dawaj, dawaj!« , hieß es wieder. Und nun wurden wir zu dem Graben geschickt. Ich stolperte mehr, als dass ich lief, und versuchte, den Lumpenschuh beim Laufen zusammenzuhalten. Bloß nicht anhalten, bloß nichts anmerken lassen, dachte ich. Zu spät. Ein Soldat hatte einen Fetzen meines Schuhs mit der schweren Sohle seines Stiefels erwischt. Ich
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