Eine Handvoll Leben: Meine Kindheit im Gulag (German Edition)
den Weg durch den Vorgarten auf die weit geöffnete Holztür zu. Dort stand eine Frau, die Hand an der Stirn, um trotz der hellen Sonne etwas sehen zu können. »Bringt die Kinder gleich in den Bettensaal!«, rief sie den anderen zu. Und als die ersten Kinder an ihr vorbei ins Haus getragen wurden, strich sie ihnen über ihre Lumpenmützen. Dann kam auch sie zu unserem Lastwagen.
Als mich die Frau ins Haus brachte, dachte ich, das müsse nun doch endlich der Himmel sein. Es war alles so sauber und hell, und es duftete herrlich! Sie trug mich in einen großen Saal, in dem mehrere Reihen mit Betten standen. Betten mit Untergestell und Matratze und Kopfkissen und Decke. Jedes frisch bezogen, in Weiß und glatt gestrichen. Aber oje, mehrere Kinder saßen mit ihren dreckigen Lumpenkleidern auf den schönen Betten. Das würde Ärger geben. Während ich das noch dachte, wollte mich die Frau gerade auf einem Bett absetzen. Ich strampelte und stemmte mich gegen sie, bis ich auf dem Boden landete. Schnell kroch ich unter das Bett und drückte mich dort an die Wand.
»Kleine, du musst keine Angst haben«, sagte die Frau. »Ich bin Schwester Maria. Die anderen Schwestern und ich helfen euch, dass ihr wieder gesund und kräftig werdet. Und nun komm raus da.«
Ich hätte gern gesagt, dass ich nichts schmutzig machen wollte, aber ich bekam keinen Ton heraus. Stumm blieb ich unter dem Bett sitzen und sah der freundlichen Frau, die meine Schwester sein wollte, in die Augen.
»Wie heißt du denn, Kleine? Weißt du das?« Was für eine dumme Frage! »Monika Charlotte Clausen von Quitzro«, antwortete ich.
»Na, dann komm, Monika. Du hast doch sicher auch Durst und Hunger. Wenn du dich ausziehen und in dein Bett legen lässt, bringe ich dir später eine warme Milch. Und ein Glas Wasser bekommst du gleich.«
Warme Milch … Ich schnupperte. Das war der wunderbare Duft, der schon das Treppenhaus erfüllt hatte … Ich wollte nun zu gern aufstehen und Wasser und Milch trinken, aber meine Beine ließen sich nicht bewegen, und in meinem rechten Fuß pochte es vor Schmerzen.
Schwester Maria bückte sich tiefer unter das Bett, zog mich vorsichtig hervor und setzte mich auf ein Laken, das sie über dem Bett ausgebreitet hatte. Ich ließ es geschehen. »Und jetzt hole ich dir Wasser«, sagte sie. In diesem Moment fiel mir mein Becher ein. Ich hatte ihn in der Baracke auf meinem Lager liegen gelassen. Meinen Becher, meinen Teller und den Löffel. Wie hatte ich mein Geschirr nur vergessen können? Woraus sollte ich das Wasser denn trinken, das Schwester Maria mir bringen würde? Ich wollte mich gerade aufrichten, um eins der anderen Mädchen zu fragen, ob es mir einen Becher leihen könnte – obwohl ich wusste, dass keins seinen Becher abgeben würde –, als Schwester Maria mit einem Glas vor mir stand. Einem Glas voll Wasser … Mit einem Mal erinnerte ich mich an früher, an zu Hause und an die große Küche bei Oma und Opa und den Schrank, in dem die Gläser standen … Kühl und glatt lag das Glas an meinen Lippen. Ich trank einen ersten kleinen Schluck. Hmmm … Noch einen. Hmmm … Dieses Wasser war besser als der geschmolzene Schnee und das Brunnenwasser, es schmeckte süßlich. Schluck für Schluck leerte ich das Glas.
»Und jetzt ziehe ich dich aus, damit ich sehen kann, ob du Verletzungen hast«, sagte Schwester Maria und wollte mir die Lumpen vom Kopf wickeln, aber ich schlug ihr gegen die Hände. Niemand würde mir meine Kleider wegnehmen! Sie waren das Einzige, was ich noch hatte. Schwester Maria war zurückgezuckt, aber dann wies sie auf eine Frau, die gerade den Saal betrat. »Schau, Monika, Schwester Josefine bringt dir und den anderen neue Sachen zum Anziehen. Da ist bestimmt etwas Passendes dabei.«
»Sterben hier denn auch so viele Kinder?«, fragte ich, als Schwester Josefine die neuen Sachen auf einem der leeren Betten ablegte.
»Sterben? Warum sollen hier … ach, nein, nein! Das sind alles Kleider, die uns gespendet wurden. Das heißt, sie wurden uns für euch geschenkt. Jedes Kind bekommt etwas.«
»Dann darfst du mir beim Ausziehen helfen«, sagte ich.
Schwester Maria begann meinen Kopf von der Lumpenhaube zu befreien, behutsam rollte sie Stück für Stück ab, bis meine wunde Kopfhaut mit den Haarstoppeln zum Vorschein kam. »Na, die Läuse haben dir aber ganz schön wehgetan, was? Die müssen wir erst einmal entfernen, damit die Haut wieder heilen kann.« Ich biss die Zähne zusammen, vor Schmerzen und auch
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