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Eine Handvoll Leben: Meine Kindheit im Gulag (German Edition)

Eine Handvoll Leben: Meine Kindheit im Gulag (German Edition)

Titel: Eine Handvoll Leben: Meine Kindheit im Gulag (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Dahlhoff
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nicht haben. Dann besser einen Fuß weniger, ich hatte ja noch den anderen. Ich wollte unter der Bettdecke nach dem gesunden Fuß fühlen, als sich die Tür öffnete.
    »Ich bringe dir etwas zu essen, Monika. Du hast die Milch so gut vertragen, da wird dir eine Suppe auch guttun. Eine kräftige Fleischsuppe mit viel Gemüse.«
    »Danke, aber leider kann ich jetzt nichts essen«, sagte ich leise.
    »Aber warum denn nicht, Kind? Willst du nicht erst einmal einen Löffel probieren?«
    »Nein, ich kann nicht mal einen Löffel davon probieren.«
    »Das ist aber schade. Die Suppe ist nämlich besonders lecker. Dann muss sie wohl ein anderes Kind bekommen.«
    »Nein, nein«, flüsterte ich jetzt. »Dann will ich doch probieren … Es ist nur, weil ich so nötig aufs Klo muss … Und hier gibt es ja gar keins.«
    »Ach, wenn es nur das ist, das haben wir gleich«, sagte die Schwester. »Bin sofort wieder da.« Und sie verschwand mit der Suppe durch die Tür; ich hatte noch rufen wollen, lass die Suppe doch da, aber die Tür war schon hinter der Schwester ins Schloss gefallen. Hoffentlich aß jetzt nicht ein anderes Kind alles auf … Mit einem Stuhl auf Rollen kam Schwester Mathilde kurz darauf zurück. »Die Suppe habe ich warm gestellt«, sagte sie, als sie meinen besorgten Gesichtsausdruck bemerkte.
    In dem Stuhl, den sie vor sich herschob, war ein Loch wie bei unserem Stuhl in der Baracke, aber es war ein sauberes Loch mit einem Topf darunter. »Ach, wenn wir doch nur so eine Toilette in unserer Baracke gehabt hätten!«, sagte ich und seufzte tief. Ich hatte den Gestank der Baracke sofort wieder in der Nase und sah mich die Kacke mit Asche und Stroh vermengen. Als hätte sie meine Gedanken erraten, sagte Schwester Mathilde, während sie mir über die Schulter strich: »Du wirst sicher noch oft an die Zeit in Russland zurückdenken, meine Kleine … aber nun komm, wir wollen die Suppe nicht so lange warten lassen.«
    Die Schwester half mir hoch, und da bemerkte ich, dass mein Nachthemd hinten gar nicht geschlossen war. »Oje, ich hab das Hemd wohl aus Versehen zerrissen!«, rief ich gleich schuldbewusst.
    »Aber nein, das ist ein Krankenhaushemd, das muss so sein, damit dich der Arzt besser untersuchen kann.«
    »Aber wenn er nach meinem Fuß guckt, braucht er doch gar nicht an den Rücken«, sagte ich und starrte auf meine beiden verbundenen Füße. »Da ist ja mein Fuß noch. Hat der Doktor ihn gar nicht abgeschnitten?«, fragte ich erstaunt.
    »Nein, nein«, sagte die Schwester, »es war eine schwierige Operation, aber wenn alles gut heilt, bleibt der Fuß dran.«
    Jetzt war ich doch erleichtert, dass ich noch beide Füße hatte. »Sag mal, Schwester Mathilde … wo hast du denn meine Suppe zum Warmhalten hingebracht? Nicht, dass ein anderes Kind sie aufisst.«
    »Du hast recht, ich hol sie dir lieber schnell. Bis dahin bist du dann bestimmt auch fertig.«
    Die Suppe habe ich am Ende wirklich nur probieren können, denn es wurde mir bereits beim ersten Löffel derartig übel, dass ich wusste, was passieren würde, wenn ich noch einen zweiten nahm. Mein Magen war sehr empfindlich. »Die Suppe schmeckt später noch genauso gut«, meinte Schwester Mathilde. Ich war aber nicht mehr in der Lage, auch nur ein Wort zu erwidern. Von einem Moment auf den anderen war eine bleierne Müdigkeit über mich gekommen. Und noch während die Schwester den Raum verließ, muss ich eingeschlafen sein.
    »Hallo«, sagte ein Mädchen, das vor meinem Bett stand. Ich war noch gar nicht richtig wach und wusste nicht, wo ich war. Wieder im russischen Lager? Oder doch im Himmel? Gulag oder Himmelreich? Dazwischen gab es anscheinend keinen Ort für mich.
    »Wo bin ich?«, fragte ich.
    »Im Krankenhaus.«
    Jetzt fielen mir wieder mein Fuß und die Suppe ein. Die langen, geflochtenen Zöpfe des Mädchens hingen über seinen Bademantel. »Warst du auch im Barackenlager?«
    »Aber nein, mich haben Mama und Papa hierhergebracht.«
    »Und warum? Wollen sie dich nicht mehr?«
    Das Mädchen sah mich erschrocken an. »Nein, nein. Sie kommen jeden Tag. Und morgen darf ich wieder nach Hause. Ich bin schon wieder gesund.« – Eine Weile musterten wir uns stumm. Wie schön die braunen Zöpfe des Mädchens glänzten! Und wie sauber sein Gesicht und seine Hände waren! Schnell rieb ich unter der Bettdecke meine Hände am Nachthemd ab. »Warst du wirklich nicht im Lager?« Ich konnte mir gar nicht vorstellen, dass es Kinder gab, die nicht dort gewesen

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