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Eine Handvoll Leben: Meine Kindheit im Gulag (German Edition)

Eine Handvoll Leben: Meine Kindheit im Gulag (German Edition)

Titel: Eine Handvoll Leben: Meine Kindheit im Gulag (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Dahlhoff
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langsam, Kind …« – Ich wusste, dass ich nicht zu schnell trinken durfte, weil ich mich dann erbrechen müsste und die schöne Milch auf der Bettdecke landen würde. Und dann könnte ich sie nicht mal mehr auflecken. Also setzte ich die Tasse für einen Moment ab, hielt sie dabei aber fest in der Hand. »Gibt es hier auch Ratten?«, fragte ich besorgt, denn bei dem Gedanken, dass die Ratten nachts auf mein Bett springen würden, bekam ich Angst.
    »Nein, keine Sorge. Ratten haben wir keine.«
    »Und wo habt ihr das Feuer und das Holz, um die Milch heiß zu machen?«
    »Wir haben eine große Küche, darin steht ein Herd, auf dem unsere Köchinnen kochen und auch Milch wärmen können. Wenn du aufstehen und wieder gehen kannst, dann zeige ich dir die Küche. Aber jetzt musst du erst einmal liegen bleiben und dich erholen.« Schnell setzte ich die Tasse an die Lippen, bevor die Schwester sie mir wegnehmen konnte, und leerte sie. »So süße Milch habe ich noch nie getrunken«, sagte ich.
    »Es war Honig in der Milch.«
    »Honig?«
    »Ja, ein süßer, klebriger … Saft. Vielleicht hast du ihn früher schon mal bekommen, als du erkältet warst.«
    »Vielleicht«, sagte ich, aber ich konnte mich nicht daran erinnern. Als Schwester Mathilde mir die leere Tasse aus der Hand nehmen wollte, traten mir augenblicklich Tränen in die Augen.
    »Aber, Kind, was ist denn?«, fragte sie bestürzt. »Hab ich etwas falsch gemacht?«
    »Wenn du mir die Tasse wegnimmst, wie soll ich denn dann Milch trinken, wenn es neue gibt? Ich hab meinen Becher doch im Lager vergessen.«
    »Ach, wie dumm von mir«, sagte sie. »Warte, ich spüle sie nur aus, und dann bekommst du sie sofort zurück.«
    »Aber wo willst du sie denn ausspülen? Kann ich dir dabei zusehen?«
    »Ich spüle sie auf dem Waschtisch aus, siehst du, dort in der Ecke. Da kannst du genau zuschauen und brauchst keine Angst zu haben, dass ich die Tasse mitnehme.«
    Jetzt war ich beruhigt, denn Schwester Mathilde ging, wie versprochen, zu der Waschschüssel hinüber, schüttete aus der Kanne etwas Wasser in die Tasse, spülte sie aus und trocknete sie mit einem Tuch, das sie aus dem Schrank unter der Schüssel hervorgeholt hatte.
    Ich verstaute die saubere Tasse unter meiner Decke. »Ich werde gut darauf aufpassen«, versprach ich.
    »Das ist fein. Aber jetzt schlaf ein wenig. Ich komme etwas später wieder nach dir schauen.«
    Mit geschlossenen Augen lag ich in meinem Bett und lauschte der Stille. Keine Rufe, keine Schüsse, kein Bellen, keine Bomben, die vom Himmel krachten. Es war wohlig warm in meinem neuen Bett, kein Stroh, das pikste, kein feuchter, kalter Boden, sondern eine richtige Matratze und ein weiches Kissen. Wie zu Hause. Zu Hause bei Mama, mit der ich manchmal morgens im Bett gekuschelt hatte.
    Als ich daran dachte, überfiel mich unendliche Traurigkeit. Wo war Mama bloß? Warum war sie nicht hier? Und dann überlegte ich, wo ich denn überhaupt war. In Königsberg? Oder in Berlin? Oder ganz woanders? Und jetzt fühlte ich mich plötzlich wieder so allein wie im Lager. Ich lag in diesem gemütlichen, warmen Bett, aber das war kein Trost dafür, dass ich niemanden mehr hatte. Und jetzt dachte ich auch wieder an Papa und an Peter, an Oma und Opa und an Elsa, und die Tränen liefen und liefen. Warum hatten sie mich denn alle verlassen? Warum hatte mich keiner mit in den Himmel genommen? Die Tränen liefen mir in die Mundwinkel. Der salzige Geschmack in meinem Mund war mir vertraut. Und während ich dalag und wieder an die Baracke denken musste, durchfuhr mich plötzlich ein großer Schrecken. Wie konnte ich denn nur so dreckig in dem schönen Bett liegen? Vor Aufgeregtheit zitternd, betrachtete ich meine Hände und meine Arme, und jetzt war ich nur noch mehr durcheinander. Sie waren sauber, nur ein paar Krusten mussten noch abheilen. Aber selbst unter meinen Fingernägeln war kaum noch Schwarzes zu sehen. Während mein Herz wild pochte, fiel mir ein, dass ich gebadet worden war. Wie ein schöner Traum kam es mir vor. Und jetzt bemerkte ich, dass mein Kopf gar nicht mehr juckte, und ich fühlte nach der Haube. Ob die Läuse schon alle tot waren? Alle in eine Grube geschüttet? Eine Grube wie in Russland, in der ich mir meinen Fuß verletzt hatte. Mein Fuß … Er schmerzte nicht mehr. Ich spürte ihn gar nicht mehr. Ob sie ihn mir abgeschnitten hatten? Sicher hatte der Doktor ihn abgeschnitten, weil er so gestunken hatte. So einen stinkenden Fuß wollte ich auch

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