Eine Handvoll Leben: Meine Kindheit im Gulag (German Edition)
aufsteigen. Immer diese dummen Tränen …
»Ach, das ist alles etwas viel für dich. Komm, ich bring dich und deine hübsche Puppe erst mal ins Haus.«
»Das ist Elsa«, sagte ich leise und drückte sie nun noch fester gegen meine Brust, damit sie mir keiner wegnehmen konnte. Schwester Maria trug mich wie schon bei meiner ersten Ankunft auf dem Arm in den großen Bettensaal. Doch diesmal war ich sauber und nicht in Lumpen gekleidet. Trotzdem fühlte ich mich unwohl.
»Das hier ist dein Bett, und du hast auch ein Fach im Schrank dort drüben. Ich lege deinen Schuh hinein, ja? Siehst du, hier liegt er. Und in den nächsten Tagen schaue ich, dass du noch eine Garnitur Wäsche zum Wechseln bekommst«, hatte sie gesagt, während sie mich auf das Bett gesetzt, den Schuh zum Schrank getragen und anschließend begonnen hatte, mir den anderen Schuh auszuziehen. »Ruh dich erst einmal aus. Wenn es Essen gibt, hole ich dich.«
Nachdem sie gegangen war und ich mich eine Weile in dem großen, leeren Bettensaal umgeschaut hatte, fühlte ich mich in meiner Einsamkeit genauso verloren wie in dem eisigen Kindergrab in Russland. In Tränen aufgelöst, nahm ich nicht einmal wahr, dass Kinder in den Saal gelaufen kamen. Erst als sie sich um mein Bett stellten und fragten, warum ich denn weinte, bemerkte ich sie, antwortete aber nicht, sondern schloss bloß die Augen. Und auch als eine Glocke ertönte, blieb ich reglos liegen und tat, als würde ich schlafen. »Hast du nicht das Läuten gehört?«, sagte ein Kind. »Du darfst jetzt nicht schlafen. Wir müssen alle unsere Hände waschen und zum Essen gehen.«
Die Kinder waren schon fort, als Schwester Maria kam. »Ich habe keinen Hunger«, log ich. Ich wollte auf gar keinen Fall mit all den anderen Kindern zusammen in einem Raum essen.
»Und meinst du, eine warme Milch mit Honig würde dir schmecken? Du darfst sie ausnahmsweise auch im Bett trinken«, sagte Schwester Maria und zwinkerte mir zu.
»Ja, aber wo ist denn mein Becher?« Ich wollte schon aus dem Bett klettern und im Schrank nachschauen, aber Schwester Maria, die den Beutel mit der Tasse neben dem Bett abgestellt hatte, hielt sie bereits in der Hand. »Die nehme ich jetzt mit in die Küche, und dann füllt dir die Köchin die Milch hinein. Und du bleibst schön liegen.« Die Schwester verschwand; abermals lag ich allein in dem großen Saal. Und abermals überwältigte mich das Gefühl des Verlorenseins, sodass ich mit Elsa von dem Bett rutschte und mich darunter verkroch. An die Wand gedrückt, wartete ich.
Nach einer Weile sah ich die Schuhspitzen und das untere Stück der langen Schwesterntracht, die auf mich zuschaukelte. Bevor die Schwester die Mitte des Saals erreicht hatte, verharrten ihre Schritte. »Monika? Wo bist du, Kind?«, hörte ich ihre Stimme.
»Hier«, hörte ich mich sagen, rührte mich jedoch nicht. Das schwarze Kleid schwankte nun weiter auf mich zu, ein Klappern verriet, dass etwas abgestellt wurde, und dann kniete sich die Schwester neben das Bett, und ihre dunkelbraunen Augen suchten meinen Blick.
Nachdem ich die süße Milch getrunken hatte, wurde mein ganzer Körper vor Müdigkeit schwer, und ich fragte, ob ich mich wieder hinlegen dürfte. Schwester Maria half mir ins Bett und versprach, so lange bei mir sitzen zu bleiben, bis ich eingeschlafen sei. Das war ein gutes Gefühl, und ich konnte den Schlaf kommen lassen. Doch als ich wohl gerade eingeschlummert war, trampelte eine Horde Kinderfüße in den Saal. »Pssssss!«, machte Schwester Maria, aber zu spät. Ich war hellwach. Wie in Russland, wenn nachts plötzlich ein betrunkener Soldat in die Baracke gestürmt war. Von einem auf den anderen Moment aus dem Schlaf gerissen und hellwach. Schwester Maria schimpfte. Die Kinder, es waren bestimmt fünfzehn oder zwanzig, redeten alle durcheinander, entschuldigten sich, fragten, was denn mit mir los sei, und schwatzten miteinander. »Monika ist noch nicht wieder ganz gesund. Ihr müsst alle besonders lieb zu ihr sein und auf sie aufpassen. Ruft mich, wenn sie etwas braucht. Und vor allem, seid nicht immer so laut. Man kann auch leise durchs Treppenhaus gehen und sich in normaler Lautstärke unterhalten.« Schwester Maria sah durch die Runde, und ich folgte ihrem Blick, bis ich ein größeres Mädchen entdeckte. Es hatte Tränen in den Augen. Regina! Es war meine Regina! Sie kam zu mir ans Bett, und ich fiel ihr um den Hals. Doch dann stieg plötzlich eine Befürchtung in mir auf.
»Müssen wir
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