Eine Handvoll Leben: Meine Kindheit im Gulag (German Edition)
waren.
»Nein, ich war noch nie in Russland. Und da will ich auch nicht hin. Ich bleibe lieber hier … Aber ich habe gehört, wie schlecht es dir geht. Und dass du niemanden hast. Und da hat der Doktor gesagt, ich soll dich mal besuchen. Hier, die ist für dich.« Das Mädchen hielt mir eine Puppe hin. Ich spürte, wie Tränen in mir hochstiegen. Das Mädchen hatte recht, ich war ganz allein. Schnell ergriff ich das Geschenk. »Danke«, sagte ich leise. »Jetzt muss ich aber noch etwas schlafen.« Ich nahm die Puppe fest in den Arm und drehte mich zur Wand. Die Einsamkeit rauschte so laut durch meinen Körper, dass ich nicht einmal mehr hörte, wie das Mädchen das Zimmer verließ.
War da nicht dieses Kratzen, dieses Rascheln? Die Ratten! Sie waren unter meinem Bett. Sicher waren sie gekommen, um meine Puppe zu holen. Sicher wollten sie ihr das Gesicht zerbeißen. »Nein, geht weg!«, schrie ich mehrere Male laut, und mein verzweifeltes Brüllen und Jammern muss durch die Zimmerwände und die Krankenhausflure gedrungen sein, denn plötzlich stand Schwester Mathilde an meinem Bett. »Kind, ganz ruhig, schschsch …«, sagte sie. »Du hast sicher nur geträumt.«
»Nein, nein«, widersprach ich unter Tränen, »sie waren wieder da. Ganz viele. Unter dem Bett waren sie.«
»Wer war unter deinem Bett?«
»Die Ratten.«
»Glaub mir, Kind, es gibt hier keine einzige Ratte. Du hast bestimmt nur schlecht geträumt.«
»Die Ratten kommen immer in der Nacht. Immer.«
»Ich weiß, dass ihr im Lager in Russland Ratten hattet. Und daran musst du heute noch immer denken. Aber hier haben wir keine Ratten. Du brauchst wirklich keine Angst zu haben, mein Kind. Komm, wir schauen zusammen unter dem Bett nach.«
Nur allmählich beruhigte ich mich.
»Zeig mir mal deine schöne Puppe. Hast du die geschenkt bekommen?«, fragte die Schwester. Die Puppe hatte ich die ganze Zeit festgehalten. »Hast du ihr schon einen Namen gegeben? Wie soll sie denn heißen?«
Ja, einen Namen wollte ich ihr gern geben, ich überlegte … »Elsa … sie soll Elsa heißen«, sagte ich leise.
»Das ist aber ein schöner Name«, sagte die Schwester. »Gibt es denn noch jemanden, der so heißt?«
»Ja, mein Hund Elsa, aber den haben die Soldaten totgeschossen.«
»Ach, Kind …«, seufzte Schwester Mathilde und drückte mich an sich. Ganz steif machte ich mich dabei, die Nähe und die Zärtlichkeit hielt ich nicht gut aus.
Die erste Zeit im Krankenhaus lief ich mit Krücken; es dauerte, bis ich endlich üben durfte, wieder ohne Gehhilfe zu laufen. Und weil die Kopfhaut immer noch von Wunden und Rissen gezeichnet war, wurde mir alle paar Tage der Kopf neu verbunden. Aber alle sonstigen Blessuren, Quetschungen, Blutergüsse und Hautabschürfungen waren fast verheilt.
Während von den Verletzungen meines Körpers nach und nach nur noch Narben übrig bleiben würden, kamen meine seelischen Verwundungen jetzt erst richtig zum Vorschein. Ich vertrug das Essen inzwischen zwar, zumindest wenn ich wenig und langsam aß, aber ich verlor den Appetit. Ich schlief von Tag zu Tag mehr, als dass ich wach war, und weinte oft stundenlang. Niemand und nichts konnte mich trösten. Was ich erlebt hatte, konnte nicht rückgängig gemacht werden. Was ich verloren hatte, war unwiederbringlich verloren. Gefühle wie Vertrauen und Zuversicht waren abgestorben, vielleicht in einem der russischen Winter erfroren, vielleicht bei einem der Blicke durch das Barackenfenster der Soldaten ausgelöscht, vielleicht schon am ersten Tag mit der Kette vom Hals für immer genommen. Es gab keinen Trost.
Tagelang blieb ich allein mit Elsa im Krankenhausbett liegen und wollte niemanden sehen. Mit anderen Kindern wollte ich schon gar nicht spielen. Hörte ich ihre Rufe durch das Fenster ins Zimmer schallen, hielt ich mir die Ohren zu. Ich schlief die meiste Zeit oder dämmerte niedergeschlagen vor mich hin, wenn ich nicht gerade aufgeschreckt im Bett saß, weil ich mal wieder die russischen Lieder der Soldaten gehört hatte, das keifende Bellen der Hunde, wenn wir nachts hungrig wie die Tiere auch an ihren Hütten vorbeigeschlichen waren. Ich sah im Schlaf die toten Kinder, und ich sah mich in der Grube, ganz blau vor Frost. Ein gutes Ende nahm der Traum, wenn Papa mich aufhob und in den Himmel trug.
»Monika, willst du nicht zurück ins Kinderheim? Erinnerst du dich an Schwester Maria? Sie würde sich freuen, wenn du wieder zu ihr kommst. Sie ist dort die Heimleiterin.«
Ich blickte
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