Eine Handvoll Leben: Meine Kindheit im Gulag (German Edition)
der Bürste zwischen den Zähnen.
Bernhard antwortete ebenfalls mit vollem Mund. »Ist aber gesund für die Zähne.«
Ich bürstete so lange, bis Bernhard mir einen Becher Wasser hinhielt. »Und jetzt ausspülen.«
Wenig später betrat ich gewaschen und angezogen an Bernhards Hand die Küche. »Guten Morgen, Vati. Guten Morgen, Mutti«, sagte Bernhard. »Guten Morgen«, nuschelte ich. Die Pflegemutter stand auf und half mir auf den Stuhl neben dem Vater und wollte noch ein Kissen holen, damit ich überhaupt an meinen Teller kam. Der Pflegevater hatte bereits ein Brot vor sich, betete jetzt mit lauter Stimme, nickte kurz und starrte schließlich kauend vor sich hin. Bernhard setzte sich dem Vater gegenüber und wartete. Ich konnte nicht viel von dem erkennen, was auf dem Tisch stand, aber den Brotkorb sah ich ganz genau. Randvoll war er. In Sekundenschnelle kletterte ich auf den Stuhl, langte in den Korb hinein und verschwand mit einer Handvoll Brotscheiben unter dem Tisch. Der Pflegevater und Bernhard hatten sich nicht einmal gerührt, so sehr musste meine Aktion sie überrascht haben.
»Wo ist denn Monika?«, hörte ich die Pflegemutter fragen, als sie mit einem Kissen mit Rüschenrand in die Küche zurückgekommen war.
»Unter dem Tisch«, antwortete Bernhard leise.
»Setz dich anständig hin, Bernhard!«, sagte der Vater barsch, und ich sah, wie Bernhard ein paar Mal auf dem Stuhl hin- und herrutschte. Ohne einen Blick unter den Tisch zu werfen, legte die Pflegemutter das Kissen auf meinem Stuhl ab und setzte sich auf ihren Platz. Und während die Familie frühstückte, aß ich unter dem Tisch von meinem Brot und summte ein russisches Lied.
Nach einer Weile stand der Pflegevater auf, woraufhin ich wie bei einem Reflex die Brotscheiben in meiner Hand schützend vor meine Brust drückte. Doch er rückte seinen Stuhl an den Tisch und verließ ohne ein Wort die Küche.
»Monika, willst du nicht zu uns an den Tisch kommen und deine Milch trinken?«, war bald die Stimme der Mutter zu hören. Ich überlegte nicht lange, kroch hervor und wollte auf meinen Platz klettern, als ich jede Menge Krümel auf dem Boden bemerkte. Ich selbst musste sie verloren haben und wollte sie nun rasch aufsammeln, aber die Pflegemutter hielt mich sanft zurück. »Das können wir doch nachher auffegen«, sagte sie.
»Aber nein!«, rief ich. »Wenn ich das nicht aufesse, kommen die Ratten und holen es sich.«
»Wir haben hier keine Ratten, Monika. Du musst dir wirklich keine Sorgen machen. Und Brot haben wir auch genug. Iss doch einmal ein Brot mit Marmelade oder Rübensirup. Hm?«
Neugierig betrachtete ich die Gläser, auf die sie gezeigt hatte.
»Warte, ich werde dir einen Löffel von beidem zum Probieren geben. Hier, das ist selbst gemachte Erdbeermarmelade.« Die Pflegemutter hielt mir einen Löffel voll hin. Schließlich ließ ich mir die glänzend rote Probierportion in den Mund schieben und schloss die Augen. Die fruchtige Süße auf meiner Zunge weckte Erinnerungen an den Gutshof meiner Großeltern und an ein Sonntagsfrühstück im Familienkreis, bei dem viel geredet und gelacht wurde.
»Und? Wie schmeckt dir die Marmelade?« Bernhard holte mich mit seiner Frage zurück an den Frühstückstisch meiner neuen Familie.
»Ich … ich hab so eine Marmelade schon einmal gegessen, früher bei … bei meiner Oma. Ich hab nur vergessen, wie es heißt und schmeckt. Aber jetzt vergesse ich es nie mehr.«
»Na, dann schauen wir mal, ob du auch Rübensirup schon mal gegessen hast.« Die Pflegemutter tunkte den Löffel in das Glas mit dem dunklen Brotaufstrich. Als sie ihn wieder herauszog, drehte sie ihn so lange, bis nichts mehr vom Löffel tropfte. »Schnell, deinen Mund auf, sonst kleckere ich noch.« Bei diesen Worten verschwand der Rübensirup in meinem Mund. Ich hätte am liebsten gleich noch einen Löffel von dem klebrigen Aufstrich genommen, so gut schmeckte er mir.
»Willst du mir nicht die Brotreste in deiner Hand geben?«
Sofort verfinsterte sich mein Blick, und ich zog die Hand vor meine Brust. »Nein, das Brot gebe ich nicht her. Ich werde es in meine Tasche hier im Kleid stecken. Dann hab ich später auch etwas zu essen.«
»Wir haben uns etwas Besseres für dich ausgedacht«, sagte die Pflegemutter und blickte zu Bernhard hinüber. Der stand auf, ging zu dem Küchenschrank hinüber und machte eine der kleineren Türen auf. »Das ist jetzt dein Fach«, erklärte er. »Hier kannst du alles, was du willst, hineintun.
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