Eine Handvoll Leben: Meine Kindheit im Gulag (German Edition)
Äpfel von den Bäumen stiehlt«, erklärte er.
Misstrauisch folgte ich den anderen bis zu dem Tor, als ich plötzlich ein Meckern und Gackern hörte, und tatsächlich, hinter dem Zaun war linker Hand eine abgesperrte Wiese, auf der sich eine kleine Herde Ziegen tummelte, rechter Hand scharrten Hühner auf dem Acker. Ich lief zuerst zu den hübschen weißen Ziegen, denn sie hatten vor Kurzem Nachwuchs bekommen, und ich hätte am liebsten jedes einzelne Zicklein auf den Arm genommen, doch der Pflegevater drängte zum Weitergehen. »Du kannst später noch mal hierherkommen, bis zum Mittag ist es ja noch Zeit.« Der einzige Hahn krähte laut, als wir an seiner Hühnerschar vorbeiliefen. Doch weit kamen wir nicht, denn als ich aus der Entfernung die vier kleinen Holzhäuser sah, blieb ich wie angewurzelt stehen. »Was ist denn jetzt wieder?« Der Pflegevater verzog mürrisch das Gesicht.
»Du hast gelogen, hier gibt es ja doch Baracken. Sicher willst du mich jetzt einsperren.« Ich war schon ein paar Schritte rückwärts gegangen und wollte mich gerade umdrehen und fortlaufen, als der Pflegevater laut auflachte.
»Ach, Monika, das sind doch nur unsere Klohäuschen«, sagte er. Und auch die Kinder lachten. »Komm, wir zeigen sie dir!«, rief Bernhard, bat seinen Vater um den Schlüssel und ergriff meine Hand.
In jeder der vier Türen waren kleine Fenster in Herzform. »Siehst du das rot umrahmte Herz? Dort ist unser Klo.« Bernhard schloss die Tür auf, und ein übler Geruch schlug uns entgegen. Ich hielt mir die Nase zu, während Franz sich zwischen uns durchdrängelte. »Hier macht man rein!«, rief er und hob den Deckel auf einer Holzbank hoch. In diesem Moment schoss ein Schwarm Fliegen aus dem stinkenden Loch empor. »Iiiihhh!«, platzte ich heraus und lief zu Margret und der kleinen Inge, die kichernd in sicherer Entfernung standen. »Kinder, jetzt erschreckt Monika doch nicht so. Komm, ich zeige dir noch etwas Schönes.« Selbst wenn der Pflegevater freundlich sein wollte, klang seine Stimme spröde. Ich und die anderen Kinder folgten ihm über die Wiese bis zu einer Steinmauer, in der ein großes Tor war. Hinter den anderen schritt ich hindurch und erst als der Pflegevater vor mir zur Seite trat, sah ich, welch ein Paradies sich jenseits der Mauer verbarg. Vor uns lag ein Feld mit Blumen und Sträuchern, rechts führte ein Weg durch eine herrliche Baumlandschaft, lauter Obstbäume, viele davon standen gerade in Blüte.
»Wir haben Äpfel, Kirschen, Pflaumen, Birnen und sogar Pfirsiche«, erzählte der Pflegevater im Weitergehen, und ein Strahlen erfüllte seine Augen. »Und dies ist ein Walnussbaum …«
»Und der Baum da hinten? Was wächst an dem?«, fragte ich und zeigte auf einen einzeln stehenden Baum auf einer kleinen Wiese, die von Rosen- und Kräuterbeeten umgeben war. »Das ist auch ein Apfelbaum, aber die Äpfel sind erst spät im Jahr reif, wenn es Winter ist.«
»Sind die Äpfel von dem Baum rot?« Ich hatte sofort an die Äpfel denken müssen, die mir meine Oma zum Geburtstag auf einen Teller gelegt hatte.
»Ja, das sind dunkelrote Äpfel. Warum fragst du?«
»Weil es an meinem Geburtstag auch immer rote Äpfel gab.«
»Soso.« Der Pflegevater zog die Augenbrauen hoch. Dann wandte er sich an Bernhard und die anderen. »Zeigt Monika noch die Spargelbeete, den Bach und das Schlösschen, ich muss jetzt zum Hof zurück. Und hier ist der Schlüssel fürs Tor, Bernhard, vergiss nicht abzuschließen, und kommt ja pünktlich zum Essen, verstanden?« Damit wandte er sich auch schon zum Gehen.
Das »Schlösschen«, wie es der Pflegevater genannt hatte, war das Schönste, was ich je gesehen hatte. Ein Pavillon aus weißem Stein, umgeben von einer Rosenhecke, sogar an den Dachstreben rankten blühende Zweige empor. Bernhard, Franz, Margret und Inge waren vorgelaufen und saßen schon auf der lauschigen Rundbank unter den Rosen, als ich endlich den schmalen Eingang durch die Dornenhecke erreicht hatte. Ich ließ mich gerade auf der schmalen Steinbank nieder, als Bernhard den Rückweg antreten wollte.
»Können wir nicht noch bleiben?«, fragte ich enttäuscht.
»Nein, es wird Zeit, wenn wir zu spät zum Essen kommen, gibt es Ärger.«
»Aber mein Fuß tut weh«, schwindelte ich. Mein Fuß schmerzte nicht mehr als sonst, aber ich wollte unbedingt noch eine Weile an diesem wundervollen Ort bleiben. Die anderen redeten wild durcheinander, es schien ihnen daran zu liegen, mir noch eine Pause zu gönnen,
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