Eine Handvoll Leben: Meine Kindheit im Gulag (German Edition)
werden, hatte Schwester Maria noch zu den Pflegeeltern gesagt.
1948 bis 1955
Bei Pflegeeltern in Zuchau (ab 1949 DDR)
D as ist mein Brot! Das kriegst du nicht!« Ich trommelte mit Fäusten auf Bernhard ein.
»Monika, hör sofort auf!«, rief Schwester Maria, und der Pflegevater war auch schon vom feierlich gedeckten Esstisch aufgesprungen und hielt mich an den Handgelenken fest, dass es schmerzte. »Entschuldige dich bei Bernhard«, sagte er in scharfem Ton.
»Entschuldigung«, flüsterte ich.
Mit neuen Kleidern im Gepäck, Mütze über dem Kopfverband und zwei Paar Wollsocken über dem rechten Fuß war ich, begleitet von Schwester Maria und dem Doktor, durch die mit Schnitzereien verzierte Holztür meines neuen Zuhauses getreten. Im dämmrigen Licht eines langen Hausflurs, von dem mehrere Türen abgingen, hatte ein Junge gestanden. Er war vielleicht drei Köpfe größer als ich. Wie sein Vater, der die Haustür geöffnet hatte, trug er einen ordentlich gezogenen Seitenscheitel und hatte das gleiche dunkle Haar; sein schmales Gesicht aber ähnelte dem seiner Mutter, die nun ebenfalls dazukam, um uns zu begrüßen. Erstaunt blieb der Blick des Jungen an meinem Kopf haften. »Meine Haare müssen erst wieder wachsen«, erklärte ich. Da lächelte er und reichte mir die Hand. »Hallo, Monika, ich bin Bernhard. Ich habe schon auf dich gewartet.« Ich wollte ebenfalls lächeln, aber es gelang mir nicht.
Herr Koehler, der selbst den Doktor um einiges überragte, bat uns alle über eine breite Holztreppe in die Wohnung hinauf, die in der oberen Etage lag. Wegen meines Fußes musste ich auf jeder Stufe einen kurzen Halt machen und kam als Letzte oben an. Bernhard hatte auf mich gewartet. »Vati und die anderen sind ins Herrenzimmer gegangen«, sagte er, während ich Mantel und Mütze an einer Garderobe ablegte. Und als er meinen fragenden Blick sah, fügte er mit einem Grinsen hinzu: »Das Zimmer heißt nur so, da dürfen auch Kinder und Frauen rein.«
Als wir den Raum betraten, hatten Schwester Maria und der Doktor bereits auf einem dunkelbraunen Sofa Platz genommen. Die Pflegeeltern ließen sich gerade in den Sesseln gegenüber nieder, und der Vater zog Bernhard zu sich heran. Ich beeilte mich, zwischen Schwester Maria und dem Doktor Platz zu finden.
Einen Moment lang sagte niemand etwas.
Ich betrachtete den Mann, der nicht mein Vater war, die Frau, die nicht meine Mutter war, den Sohn, der nicht mein Bruder war. Eine Familie, die nicht meine Familie war.
Ein Räuspern unterbrach die Stille. »Jetzt gehörst du also zu uns, Monika. Du kannst Vati zu mir sagen, und das ist deine Mutti, und Bernhard wird von nun an dein Bruder sein.«
Vati, Mutti, Bernhard … Papa, Mama, Peter … Vati, Mutti, Bernhard … immer im Wechsel summte ich die Namen in meinem Kopf, während ich verstohlen vom hell erleuchteten Kronleuchter an der Decke zur Flügeltür neben dem Sofa schaute, dann die Wand entlang zu einem Schrank aus schwarzem Holz und zu einem Sekretär aus dem gleichen Holz, mit einem Stuhl davor, dessen Sitzpolster mit dunkelrotem Leder bezogen war und dessen Armlehnen Löwenköpfe zierten. »Den Stuhl können wir in der Baracke aber nicht gebrauchen«, platzte ich heraus. »Da bekommen wir niemals ein Loch hinein. Höchstens, wenn die Ratten helfen. Die haben ja immer Hunger.«
Schwester Maria setzte sofort an, etwas zu sagen, aber Pflegevater Koehler kam ihr zuvor. »Wir werden das schon schaffen!«, sagte er, den Blick streng auf mich gerichtet, und nickte noch ein paar Mal zur Bestätigung. »Und jetzt zeigt dir Bernhard euer Zimmer, wir rufen euch dann zum Essen. Sie möchten sich vor der Rückreise doch sicher etwas stärken.« Damit hatte er sich an den Doktor und Schwester Maria gewandt.
»Dort auf dem Sofa hat Mutti dir dein Bett hergerichtet«, sagte Bernhard, nachdem wir sein Zimmer, das er nun mit mir teilen sollte, betreten hatten.
»Hinter der Tür, das ist gut«, überlegte ich laut. »Da kann man sich besser vor den Soldaten verstecken.«
»Aber hier sind doch gar keine Soldaten! Hier wohnen nur Mutti, Vati, ich und jetzt auch du … Und die anderen Familien im Haus haben auch keine Soldaten.«
»Aber wenn Soldaten kommen, dann haben wir keine Zeit wegzulaufen«, sagte ich.
»Es kommen bestimmt keine Soldaten …« Klang Bernhards Stimme unsicher?
»Du musst ja keine Angst haben, die nehmen nur Mädchen mit.« Ich ging zu dem Bett hinüber und befühlte das Kissen und das Federbett. Ob ich zu
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