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Eine Handvoll Leben: Meine Kindheit im Gulag (German Edition)

Eine Handvoll Leben: Meine Kindheit im Gulag (German Edition)

Titel: Eine Handvoll Leben: Meine Kindheit im Gulag (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Dahlhoff
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rein.«
    Zählte er mich dazu? Meine Freude verflog, als ich das Holzhaus sah. Wie eine große Baracke, dachte ich und wollte schon weglaufen, als der Pflegevater die Tür aufgeschlossen hatte und aufhielt. »Hier stehen wahre Schätze«, sagte er.
    Zögernd betrat ich den großen, kühlen Raum, in den nur durch zwei verstaubte Seitenfenster und die offene Tür das Tageslicht fiel. Als Erstes erkannte ich im Halbdunkeln eine Kutsche. Sie musste alt sein, glänzte aber wie neu. Solche Kutschen hatte ich früher in Königsberg oft gesehen. An der Decke über uns hingen Holzschlitten, und in einer Ecke standen lauter alte Möbel, die mit weißen Tüchern zugedeckt waren. »Die standen im Haus, als die Eltern von Mutti noch lebten«, sagte der Pflegevater. »Im Krieg mussten wir dann auch andere Familien aufnehmen, und wir haben alles hier untergestellt.« Gedankenverloren hielt er die Abdeckung über ein paar gestapelten Stühlen länger hoch als nötig, bis er sich mit der freien Hand über die Augen strich, so als wollte er die aufkommenden Erinnerungen fortwischen, und das Tuch endlich wieder fallen ließ. Er deutete auf einen großen Tisch mit Schränken darunter und Werkzeugen an der Wand darüber. »Wie gut, dass ich diese Werkbank vom meinem Vater noch habe. So kann ich die meisten Reparaturen am Haus selbst erledigen«, erklärte er. »Aber nun komm, wir müssen nach Hause, die anderen machen sich sonst Sorgen.« Wir verließen den Schuppen, und der Pflegevater schloss sorgfältig ab. »Ein anderes Mal steigen wir noch auf den Dreschboden hinauf.« Ich wusste gar nicht, wovon der Pflegevater sprach, wollte aber nicht nachfragen, weil die Stimmung gerade so schön war. Er sagte dann noch, dass hinter dem Schuppen eine steile Treppe hinaufführe, aber dass mein Fuß dafür wieder ganz gesund sein müsse. Außerdem würde es schon anfangen zu dämmern. Wir brachten dann aber doch noch schnell die Ziegen in den Stall.
    Aufreibend und mühevoll war für mich die erste Zeit bei der Pflegefamilie: Es gab so viel Neues und so viel, was ich nicht kannte und nicht verstand! Und außerdem war ich nun mal ein Gulag-Kind. Die Essenszeiten in der Familie ließen meinen Magen häufig streiken; ich konnte mich einfach nicht an regelmäßiges Essen gewöhnen. Dabei tobte oft solch ein Hunger in mir, dass ich meinte, er würde mich zerreißen. Doch die vielen verschiedenen Lebensmittel und Speisen auf Tisch und Teller überforderten mich, sodass ich mal zu viel aß und mich schließlich übergeben musste oder aber nicht mehr in der Lage war, auch nur einen Bissen zu probieren. Dann brachte mich die Pflegemutter auf mein Zimmer, und ich trank einen Becher warme Milch. Gleichzeitig wollte ich ständig Lebensmittel einstecken und verstecken; das kleine Fach im Schrank reichte nicht aus, um mir ein sicheres Gefühl zu geben, und die Angst, wieder hungern zu müssen, war stärker als alle Zusicherungen meiner Pflegeeltern, dass es immer ausreichend Essen für mich geben würde.
    Zu schaffen machte mir auch, dass ich anfing einzunässen. Ich schämte mich dafür; das erste Mal, als es passierte, weckte uns der Pflegevater morgens, was nur selten vorkam, und ich weigerte mich aufzustehen.
    »Fühlst du dich nicht gut?« Der Pflegevater schaute mich prüfend an.
    Ich traute mich nicht zu lügen und schwieg.
    »Na, dann kannst du auch aufstehen.«
    Ich regte mich nicht.
    »Geh dich erst mal waschen, und dann frühstücken wir … Oder hast du etwa ins Bett gemacht?«
    Ich zuckte zusammen. Woher wusste er das?
    »Also, jetzt reicht’s. Sprich gefälligst mit mir!«
    Wieder einmal begannen meine Zähne zu klappern. Würde er mich jetzt schlagen? Würde er mich treten? Der Pflegevater wandte sich abrupt ab und verließ das Zimmer.
    »Monika, steh doch lieber auf … bevor Vati böse wird.« Bernhard war aus dem Badezimmer zurück ins Zimmer gekommen, er war schon angezogen.
    »Aber ich kann nicht aufstehen«, sagte ich.
    »Soll ich Mutti holen?«
    Zu spät. Der Pflegevater stand abermals im Raum und sagte jetzt streng: »Steh sofort auf und komm in die Küche.« Ich drückte mich tief in das Kissen. Mir war es unangenehm, in dem feuchten Bett zu liegen, aber mit dem nassen Nachthemd aufzustehen und in die Küche zu gehen war mir unmöglich. Zudem lähmte mich der harsche Ton. Und dann sah ich nur noch das zornige Blitzen in den Augen des Pflegevaters, und im nächsten Moment riss er mir die Bettdecke fort, ergriff meine Handgelenke und zog

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