Eine Handvoll Leben: Meine Kindheit im Gulag (German Edition)
fragte nach einem Klostuhl. Tante Ida führte mich daraufhin in den Flur hinaus und öffnete eine Tür, hinter der sich zu meiner großen Überraschung eine richtige Toilette verbarg, wie wir sie in Königsberg gehabt hatten. »Soll ich dir helfen?«, fragte die alte Frau.
»Nein, das kann ich doch allein«, sagte ich. Und nachdem sie die Tür von außen geschlossen hatte, saß ich auf der Klobrille und sah mich nach Zeitungspapier um. Doch stattdessen entdeckte ich eine Rolle mit weichem hellem Papier. Ich zog an dem Papier, und es hörte gar nicht mehr auf, sich abzurollen, und bald lag ein ganzer Haufen Toilettenpapier vor mir auf dem Boden. Ich riss etwas ab, um mich abzuputzen, den Rest versuchte ich, in die Kleidertaschen zu stecken, doch in einer waren schon die Bonbons. Nicht alles bekam ich unter, und die hellen Blätter schauten aus den Taschen hervor. Weil jedoch nichts herausfiel, war ich zufrieden. Die Bonbons, der Kuchen und auch noch so schönes Papier: Heute war anscheinend mein Glückstag.
Tante Ida lachte, als sie mich sah. Und als Bernhard mir die Papierknäuel wegnehmen wollte, hielt sie ihn zurück. Ich solle ruhig davon mitnehmen, erlaubte sie.
Mit der Zeit bekam ich von dem Pflegevater verschiedene Aufgaben übertragen. So brachte er mir das Ziegenmelken bei. Zuerst mussten wir die Ziegen aber von der Wiese hereinholen, und der Pflegevater wunderte sich, warum die Tiere alle zu mir gelaufen kamen und sich so einfach von mir einfangen ließen. Vor ihm sprangen sie jedes Mal davon, und er musste ihnen hinterherrennen und fluchte dabei laut. Doch dann im Stall beim Melken stellte ich mich weniger geschickt an. Ich sollte mich auf einen Melkschemel setzen, der nur ein Bein hatte und auf dem das Sitzen eine wacklige Angelegenheit war. Der Pflegevater band mir den Schemel um, sodass ich damit von Ziege zu Ziege hätte gehen können und dabei den Eimer tragen konnte, in den die Milch gemolken werden sollte. Doch zum ersten Üben an einer Ziege hatte er das Tier an einem Balken festgebunden. Jetzt kniete er sich hin, stellte einen kleinen Eimer unter das Euter, griff nach einer Zitze, und zu meinem Erstaunen schoss ein dicker Milchstrahl daraus hervor. »Hast du gut zugeschaut?« Der Pflegevater schaute streng. »Dann bist du jetzt dran.«
Ich rutschte auf dem Schemel hin und her, bis ich meinte, Halt zu haben, ergriff mit der rechten Hand eine Zitze und drückte zu. Die Ziege sprang bockig hoch, Milch war keine gekommen. Ich versuchte es noch einmal, aber selbst als die Ziege ruhig stehen blieb, fiel nicht ein Tröpfchen in den Eimer. »Du musst die Milch von oben nach unten herausdrücken«, erklärte der Pflegevater ungeduldig. »Zuerst greifst du mit Daumen und Zeigefinger die Zitze und drückst sie zu, dann machst du eine Faust und drückst weiter. So, siehst du?« Wieder schoss die Milch großzügig in den Eimer. »Ich geh jetzt mal nach den Pferden sehen und wenn ich wiederkomme, ist der Eimer voll.« Damit war er aus dem Stall verschwunden.
»Na, Ziege, willst du mir nicht etwas Milch geben«, redete ich freundlich auf die Ziege ein. Dann hielt ich die Zitze in meine Richtung, um mir etwas Milch in den Mund zu spritzen. Hmmm … Das meiste ging zwar daneben, aber es gelangte auch etwas in meinen Mund. Mit neuem Mut griff ich abermals nach dem Euter, und tatsächlich, die klägliche Milchpfütze im Eimer wuchs an. Auf einmal machte das Melken sogar Spaß, zumindest bis zu dem Moment, als die Ziege plötzlich mit einem Bein ausschlug. Der Eimer fiel um, und ich kippte vor Schreck mit dem Schemel nach hinten.
Als der Pflegevater die verschüttete Milch sah, sagte er nichts, sondern schlug mir ohne Vorwarnung mit der flachen Hand ins Gesicht. Ich wollte weglaufen, aber der Schemel hinderte mich daran.
»Du wirst doch wohl noch die Ziege zu Ende melken!«, wetterte der Pflegevater. Unter Tränen drückte ich die Zitze zusammen, bis kein Tropfen Milch mehr herauskam.
»Monika wird nun jeden Tag die Ziegen melken«, sagte der Pflegevater zur Mutter, als wir zum Abendbrot in die Küche kamen.
»Ach, das ist ja schön!«, rief sie. »Da nimmst du mir eine Menge Arbeit ab.«
Eine andere Arbeit, die ich von nun an zu erledigen hatte, war das Schuheputzen. Einmal in der Woche hatte ich alle Schuhe zu putzen, die vor der Tür standen, die Arbeitsschuhe des Pflegevaters sogar jeden Tag. Auch das Schuheputzen brachte mir der Pflegevater bei. Ich ekelte mich, als er am Ende der Putzerei auf jeden
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