Eine Handvoll Leben: Meine Kindheit im Gulag (German Edition)
Dann würde es lustig, denn bei Tante Frieda durften wir Kinder bei Tisch miteinander reden; oben bei den Pflegeeltern hatten Bernhard und ich nur zu antworten, wenn wir etwas gefragt wurden. Ich drückte die Klinke hinunter, doch noch bevor ich den Fuß in der Küche hatte, schwand meine gute Laune. Die Nachbarskinder, Tante Friedas Kinder und Bernhard standen in einer Reihe nebeneinander vor dem Pflegevater, wie beim letzten Mal, als ich versehentlich das Ei kaputt gemacht hatte. »Da ist ja auch Monika. Komm, stell dich dazu!«, rief er streng. Ich wollte mich schon umdrehen und weglaufen, aber da brüllte er: »Nichts da! Zu den anderen mit dir.« Meine Knie schlotterten vor Angst, und ich taperte wie benommen zum Ende der Reihe und stellte mich neben Bernhard. Er sah mich mitleidig an. Würde mich der Pflegevater wieder schlagen? Aber warum? Was hatte ich getan? Der Pflegevater stand schwer atmend auf. »Kinder, ihr wisst, wie viel wir arbeiten, um ein bisschen Geld zu verdienen und unsere Familie satt zu bekommen. Jeder, der zu Besuch kommt, ist bei uns willkommen, und wir teilen unser Essen mit ihm. Aber wenn uns jemand Geld wegnimmt, dann können wir es uns nicht mehr leisten, den Tisch für alle zu decken.«
Ob nicht genug zu essen da war? Wollte der Pflegevater das sagen? »Vati, ich brauche heute kein Essen mehr, du kannst meins einem anderen Kind geben«, sagte ich schnell und dachte an die vielen Bonbons in meinem Schrank. Aber der Pflegevater sah mich nicht mal an. Hilflos blickte ich zur Pflegemutter und zu Tante Frieda hinüber. Die Pflegemutter presste die Lippen aufeinander, Tante Frieda lächelte milde.
»Wer hat die drei Mark fünfzig genommen?«, schallte es jetzt durch die Küche. Keins von uns Kindern sagte ein Wort. Ob meine Geheimplättchen gemeint waren? Oje, mir schwante Übles. Aber ich hatte doch gar nicht gewusst … »Ich hab dort etwas weggenommen. Es lagen dort so Dinger. Die glänzten so schön … Und Tante Wentzel hat mir ganz viele Bonbons dafür gegeben.« Ohne ein weiteres Wort schob der Pflegevater die anderen Kinder zur Seite und ging zum Küchenschrank. Er öffnete eine Schranktür und zog einen Stock daraus hervor. »Nicht mit dem Siebenzagel!«, rief Tante Frieda. »Arthur, sie hat doch gar nicht gewusst, dass es Geld war. Sie hat es doch nicht absichtlich gemacht.«
»Dann soll sie es auch nicht mehr vergessen, was Geld ist und was passiert, wenn man Geld stiehlt.« Jetzt stand er wie ein Riese vor mir. Meine Zähne klapperten. »Dreh dich um«, sagte er. Und dann trafen mich die Lederriemen auf dem Rücken, am Po, an den Beinen, und ich krümmte mich. Immer und immer wieder schlug er zu. »Arthur! Nein! Lass das Kind in Ruhe!«, rief Tante Frieda, aber es half nicht. Die Pflegemutter stand neben ihr, den Blick zum Boden gerichtet. Das Bild der Frauen verschwamm vor meinen tränennassen Augen. Jetzt traf mich ein Riemen am Hinterkopf, und ich sackte vor Schmerz zusammen; ich kniete am Boden, mein Gesicht von den Armen verdeckt, die Hände über dem Kopf. Von diesem Moment an nahm ich die Schmerzen gar nicht mehr wahr, ich spürte die Schläge, wie das Leder über meine Finger, die Arme, den Rücken und die Beine knallte, aber ich fühlte den Schmerz nicht mehr. Mein ganzer Körper war wie im Schmerz ertrunken, und es gab kein Denken und kein Fühlen mehr. Vielleicht ist es so, wenn man tot ist.
Erst als sich Tante Frieda zum Schutz über mich beugte und rief: »Du musst schon mich schlagen, wenn du nicht aufhören willst!«, kam ich wieder zu mir. Der Pflegevater ließ den Siebenzagel sinken. Tante Frieda wollte mir helfen aufzustehen, aber ich hatte keine Kraft und kam nicht auf die Beine. Sie hielt mich eine Weile im Arm, während ich wimmernd am Boden saß. Den anderen Kinder, die sich an die Wand gepresst hatten, war die Furcht ins Gesicht geschrieben. Nur allmählich konnten sie sich aus ihrer Starre lösen. Der Pflegevater setzte sich an den Tisch und begann mit dem Abendbrot. Als wäre nichts geschehen, nahm er sich von dem Brot und der Wurst, und die Pflegemutter schenkte ihm Tee ein.
Nachdem sich die Nachbarskinder mit leisen Stimmen verabschiedet hatten und gegangen waren, setzten sich Bernhard, Inge und Franz zu den Pflegeeltern an den Tisch. Tante Frieda aber holte eine Schüssel mit Wasser und tupfte mir mit einem Waschlappen über die blutigen Striemen. Auf einmal hielt sie inne. »Weißt du eigentlich, warum Vati dich geschlagen hat?«, fragte sie
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