Eine Handvoll Leben: Meine Kindheit im Gulag (German Edition)
Rufe über die Wiesen und die Felder. Ich hob den Kopf nur so weit, dass ich über den Blätterkranz vor mir Ausschau halten konnte. Doch es kam niemand in die Nähe des Hügels. Ich lag da und döste in der Sonne. Dann schreckte ich hoch. Wasser! Ich hatte kein Wasser geholt! Im Garten gab es einen Brunnen. Ich konnte mir aber auch Milch melken. Nur, jetzt würde ich nicht unbemerkt in den Stall kommen. Vielleicht später, wenn der Pflegevater und Bernhard auf dem Feld waren. Die Morgensonne schien bereits mit aller Kraft, und ich überlegte, wie ich mir einen Sonnenschutz bauen könnte. Aber nichts, das man von außen sehen konnte … Eher eine Höhle … Auch für den Winter … Und schon tastete ich den Boden ab. Wo so viele Pflanzen wuchsen, musste doch Erde sein. Richtig. Unter den Ranken und dem Gestrüpp fühlte ich weiche, kühle Erde. Mit beiden Händen legte ich ein Stück frei und begann zu graben. Im Nu waren meine Hände und mein Nachthemd, vor allem an den Kniepartien, dunkelbraun. Ich wollte ein tiefes Loch für mich und meine Vorräte buddeln, denn wenn der Winter kam, dann gab es sicher nichts mehr zu ernten. »Huch, was machst du denn da, kleiner Wurm?«, rief ich und hielt ein rosagraues Etwas in die Höhe. Es rollte sich vor Schreck zusammen. »Keine Angst, noch habe ich genug Früchte und brauche dich nicht zu essen. Du kommst wieder in die Erde, aber nicht in mein Loch zurückkrabbeln, verstanden?« Kaum hatte ich den Wurm am Rand des Hügels abgesetzt, bohrte er sich zwischen Blättern und Wurzeln in den braunen Boden. Ich wollte schon weitergraben, als ich Blut an meinen Händen bemerkte. Und wie in einem Traum sah ich die Lederriemen wieder vor mir, wie sie auf meine Hände knallten. Ich starrte sie an, und der Dreck vermischte sich mit dem Blut, und ich musste an die eitrigen Wunden und stinkenden Geschwüre denken, die wir Kinder im Lager gehabt hatten. Sofort wollte ich den Dreck von den Händen waschen und war auch schon auf halbe Höhe hinuntergeklettert, als ich meinen Namen hörte. Es war Tante Frieda, die mich rief. Sehen konnte ich sie nicht, wollte aber auch nicht, dass sie mich entdeckte, also kroch ich schnell wieder zurück und legte mich mit klopfendem Herzen in die Kuhle, die ich ausgehoben hatte.
»Monika, Kind, zeig dich, wenn du hier bist. Wir wollen dich nach Hause holen. Bitte zeig dich doch, mein Kind.«
Ich tat keinen Mucks und blieb reglos liegen. Auf einmal hörte ich die Pflegemutter von weiter weg. »Lass uns zurückgehen, Frieda. Hier ist sie nicht, ich habe im Pavillon und zwischen den Rosen nachgeschaut, aber sie ist nicht hier. Wenn sie Hunger hat, wird sie schon den Weg zu uns finden.« Das dachte sie wohl! Ich wusste, wie ich mich selbst versorgen konnte, und brauchte niemanden. Niemanden. Ich drückte die Tränen, die in mir aufstiegen, weg.
Das Blut an den Händen war getrocknet, und ich konnte die Krusten vom Dreck kaum unterscheiden. Ich weiß nicht, wie viele Stunden vergangen waren, es war vielleicht Mittag oder Nachmittag, als Bernhard und Franz um den Hügel schlichen. Ich konnte ihre leisen Gespräche nicht verstehen, aber ihre Stimmen hatte ich sofort erkannt. Ob sie auch nach mir suchten? Ich lauschte noch angestrengt, als es längst wieder ruhig war und nur der Gesang einiger Vögel die Stille unterbrach.
Während ich so dagelegen hatte, war mir die Idee gekommen, aus dem Ziegenstall eine kleine Schaufel zu holen, die dort in einer Ecke stand. Und dann konnte ich auch gleich Milch trinken. Bei dem bloßen Gedanken an Ziegenmilch schoss mir der Speichel in den Mund. Doch ich wollte noch warten. Bloß nicht riskieren, vom Pflegevater entdeckt zu werden.
Im Dunkeln machte ich mich dann auf den Weg. Doch bevor ich zum Stall lief, huschte ich noch zum Bach hinüber, um den Enten »Gute Nacht« zu sagen. Und ich meinte auch, dass sie die Köpfe zum Gruß gehoben hatten, jedenfalls waren sie nicht davongelaufen und kannten mich sicher schon. Von nun an würden wir direkte Nachbarn sein. Auf dem Weg zum Stall kam ich auch an meinem Apfelbaum vorbei. Ich blieb eine Weile unter dem dunklen Blättervorhang stehen und schaute nach dem Mond, der hin und wieder durch die Äste hindurchblitzte. Würde ich an meinem nächsten Geburtstag noch hier sein? Oder wäre ich endlich bei meiner Mama? Meine Mama war eine richtige Mama, sie hätte niemals zugelassen, dass ich geschlagen wurde. Sie würde mir helfen und mich in Schutz nehmen, so wie es liebe Mamas tun.
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