Eine Handvoll Leben: Meine Kindheit im Gulag (German Edition)
sich an, als würden sich meine Arme und meine Beine in eine luftige Blase verwandeln, die mich federleicht trug, und wenn ich das Fenster geöffnet hätte, wäre ich wohl davongeflogen. Aber ich wollte nur mein Töpfchen suchen und ging hinaus in den Flur, wo ich eine Weile lang stand und mit den Armen ruderte, als würde ich fliegen. »Was machst du hier, Kind?«, holte mich die Stimme der Pflegemutter zurück auf den Boden, und ich ließ die Arme sinken. »Ich dachte, ich kann fliegen … und ich wollte mein Töpfchen suchen.« Sie nahm mich an der Hand, führte mich ins Zimmer zurück, und wie immer stand der Topf unter meinem Bett.
Ein Leibchen, lange Strickstrümpfe mit Knöpfen, ein Kleid mit Schürze darüber – neu eingekleidet wurde ich einem Mann mit einer schwarzen Ledertasche und einer Frau mit einem Häubchen auf dem Kopf vorgestellt. Es waren der Kreisarzt und eine Krankenschwester.
»Wie heißt du denn, mein Kind?«, fragte der Arzt.
»Monika Charlotte Clausen von Quitzro«, antwortete ich.
»Und weißt du noch, wo du herkommst?«
»Aus dem Barackenlager.«
»Ja, das stimmt … Aber davor? Wo warst du zu Hause?«
»In Königsberg. In der Kneiphöfischen Langgasse siebenundachtzig.«
»Dass du das noch so genau weißt … Kennst du denn auch deinen Geburtstag?«
»Ich habe Geburtstag, wenn es rote Äpfel gibt.«
»Und in welchem Monat?«
»Na, wenn es die Äpfel gibt.«
»Hm. Dann wollen wir dich mal untersuchen, um es genauer herauszufinden. Du bist ja recht klein und zart für dein Alter. Isst du denn genug.«
Ich wusste keine Antwort. »Sie verträgt nicht immer alles«, kam mir die Pflegemutter zu Hilfe.
Der Arzt ließ sich von der Schwester einen Holzstab anreichen. »Mach mal den Mund auf und zeig mir deine Zähne.« Widerwillig öffnete ich den Mund, aber nur einen kleinen Spalt. »So kann ich nichts sehen, mach den Mund mal weit auf …« Der Arzt zeigte mir sein Gebiss. »Ja, so ist es gut.« Er kam ganz nah an mich heran, drückte mit dem Stab meine Zunge nach unten und fasste mit seinen Fingern in meinen Mund. Danach schrieb er etwas auf ein Blatt Papier.
»Und bist du denn getauft?«
»Was ist das denn, getauft?«
»Wir werden sie noch taufen lassen«, sagte der Pflegevater nun schnell. Der Arzt nickte zufrieden. »Schwester Gudrun, bitte ziehen Sie das Kind aus.« Die Krankenschwester kam lächelnd auf mich zu. Ich wollte mich schon unter dem Tisch verkriechen, aber ihr harter Griff ließ keinen Widerstand zu.
Unter den Blicken der Pflegeeltern musste ich die Untersuchung über mich ergehen lassen; der Arzt drückte mal hier, mal dort, horchte durch einen schwarzen Trichter an meiner Brust und an meinem Rücken und befühlte alle möglichen Körperstellen, vor allem meinen Blähbauch, der noch immer nicht kleiner geworden war, und schaute sich den vernarbten Kopf und den rechten Fuß sehr genau an.
Schließlich durfte ich mich wieder anziehen, und die Krankenschwester schenkte mir noch eine Socke für den kranken Fuß, denn einen Schuh durfte ich immer noch nicht tragen. Aber dieses Söckchen war viel weicher als die Stricksocken der Pflegemutter, sodass ich es gern tragen wollte. »Monika, geh doch bitte zu mal Tante Frieda hinunter«, sagte der Pflegevater, und ich gehorchte.
Draußen vor der Tür blieb ich jedoch stehen und lauschte.
»Das Kind war lange Zeit unterernährt und liegt in seiner körperlichen Entwicklung weit zurück«, hörte ich den Arzt sagen, »aber es wird mit regelmäßigen Mahlzeiten und Bewegung an der frischen Luft sicher einiges nachholen können.«
»Und wann ist sie wohl geboren?«, fragte der Pflegevater.
»Ich würde sagen, im März 1940 … Nehmen wir doch den 16. März. Das ist ein schönes Geburtstagsdatum. Im Frühling …«
Der Alltag auf dem Hof ließ mich den Besuch des Arztes bald wieder vergessen. Es war Sommer, und vor allem die Obsternte und Gartenarbeit bestimmten den Tagesablauf. Immer öfter half ich nun auch der Pflegemutter in der Küche. Sie brachte mir bei, Gemüse zu putzen, Obst einzukochen und wie man aus Ziegenmilch Butter, Sahne und Dickmilch herstellte.
»Holst du noch Kräuter aus dem Garten? Petersilie und Schnittlauch?« Wenn die Pflegemutter mich in den Kräutergarten schickte, sprang mein Herz vor Freude. Nur dann durfte ich allein über das Grundstück laufen, durch die Obstwiesen und an den Blumenfeldern vorbei. Und bevor ich die Kräuter mit der Schere abschnitt, die mir die Pflegemutter in die
Weitere Kostenlose Bücher