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Eine Handvoll Leben: Meine Kindheit im Gulag (German Edition)

Eine Handvoll Leben: Meine Kindheit im Gulag (German Edition)

Titel: Eine Handvoll Leben: Meine Kindheit im Gulag (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Dahlhoff
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Diese Mutti war nicht lieb, wenn sie zusah, wie dieser Vati mich prügelte. Heute Abend wollte ich wieder mit meinem Papa sprechen, er war der liebste Papa der Welt. Aber nun rannte ich erst einmal zum Stall.
    Als ich den Riegel der Brettertür zur Seite schob, begannen die Ziegen laut zu meckern. Starr vor Schreck blieb ich in dem halb geöffneten Eingang stehen. Ob man die Ziegen bis ins Haus hörte? Nein, nein. Sicher nicht. »Schsch…, ihr Zicklein«, sagte ich, und meine Stimme zitterte vor Aufregung. Dann schlüpfte ich in den dunklen Stall und wartete, bis sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Das wusste ich noch aus dem Lager, dass man im Dunkeln sehr gut sehen konnte, wenn man sich erst einmal daran gewöhnt hatte. Ich streichelte ein paar Ziegen über das weiche Fell und nahm eins der Jungen in den Arm. Ewig hätte ich so da hocken können, mit der kleinen Ziege an meiner Brust. Aber ich war wegen der Milch und der Schaufel gekommen, also tappte ich zu der Kiste, auf der eine kleine Melkschüssel stand, und ging damit zu einer großen Ziege, die ich schon öfter gemolken hatte. Ich erkannte sie an ihrem langen Bart. »Gibst du mir etwas Milch, liebe Ziege?«, fragte ich und drückte die Zitze zusammen. Das Plätschern der Milch in die Schüssel kam mir so laut vor wie noch nie. »Danke«, hauchte ich und setzte die Schüssel an die Lippen. Es tat gut, wie die lauwarme Flüssigkeit die Kehle hinabfloss und den Magen füllte.
    Als ich satt war, suchte ich nach der kleinen Schaufel, fand sie aber nicht. Stattdessen entdeckte ich mehrere gefaltete Säcke. Wohl Kartoffelsäcke. Die konnte ich gut gebrauchen; sie würden mich warm halten. Ich klemmte mir ein paar unter den Arm. Ach, da war ja die Schaufel mit dem kurzen Stiel, sie war bloß umgefallen, deshalb hatte ich sie nicht gesehen … Was ich wohl noch gebrauchen könnte? … Ein lautes Knacken ließ mir das Blut in den Adern gefrieren. Waren da Schritte vor der Tür? Kam der Pflegevater, um nach den Ziegen zu sehen? Wenn er mich hier entdeckte, würde er mich grün und blau schlagen. Wo konnte ich mich schnell verstecken? Die Ziegen meckerten, als würden sie mich rufen, und so huschte ich zu ihnen hinter das niedrige Gatter und duckte mich inmitten der kleinen Herde tief auf den Boden. Als die Ziegen nach einer Weile ruhiger wurden, horchte ich angestrengt. Alles war still. Keine Schritte. Kein Knacken. Trotzdem verharrte ich noch eine ganze Weile zwischen den Tieren, die mich mal anstupsten und mir mal mit ihren rauen Zungen durchs Gesicht leckten. Es war längst Nacht, als ich mir zurück auf meinem Hügel ein Bett aus den Säcken baute.
    Auch am nächsten und übernächsten Tag wurde ich gesucht, und mein Name hallte immer mal wieder über die Wiesen und Gärten. Ich kümmerte mich aber nicht darum, sondern grub mit der Schaufel an meinem Erdloch weiter. Es machte mir richtig Freude. Schließlich vergrub ich hier auch keinen Mist oder tote Kinder. Ich baute mir eine Höhle, in der mich niemand finden konnte. Hier würde ich auf Mama warten. Schließlich würde Schwester Maria aus dem Kinderheim ihr sagen, wo sie mich hingebracht hatte. Es war also nur klug, hierzubleiben auf dem Gut der Familie Koehler. Und nur wenn ich ganz sicher war, dass sich niemand in der Nähe des Hügels aufhielt, holte ich mir ein paar Früchte und Kräuter.
    So lebten die Familien im Haus und ich auf meinem Hügel mehrere Tage nebeneinanderher, ohne uns zu begegnen. Doch eines Abends verdunkelte sich der Himmel nicht nur, weil die Sonne untergegangen war, sondern weil dicke Regenwolken herangezogen waren, und es begann leicht zu tröpfeln. Mein Erdloch war noch nicht tief genug, um mich darin zu verkriechen, und so wurden entweder meine Beine und Füße oder aber mein Kopf und Rumpf nass. »Jetzt lass doch den Regen aufhören, lieber Gott«, betete ich. »Willst du mich denn gar nicht beschützen, wenn es schon kein anderer tut?« Ich war richtig wütend. Mein schöner Plan, das viele Graben … Und jetzt? Ich konnte unmöglich die ganze Nacht im Regen sitzen. Ich hatte zwei Kartoffelsäcke als Unterlage benutzt, in einen hatte ich Löcher gerissen, sodass ich ihn über dem Nachthemd tragen konnte, den letzten hatte ich zurückgelegt. Für einen Notfall, und der war jetzt. Ich hielt ihn mir wie ein Dach über den Kopf. Nur, wie lange konnte ich ihn so halten? Noch bevor meine Arme ermüdeten, nahm der Regen dermaßen zu, dass mir dicke Tropfen auf den Kopf

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