Eine Handvoll Leben: Meine Kindheit im Gulag (German Edition)
auf den Feldern wurde für uns Kinder schwerer. Weil es nicht genug Tiere gab, spannte der Pflegevater mich und Bernhard und ein paar Hilfsarbeiter vor den Pflug oder die Karren mit geladener Ernte. Ich hoffte, dass bald alles im Keller war. So ging der Sommer mit viel Schweiß, viel Blut und noch mehr Tränen zu Ende.
Bernhard hatte nach den Ferien die Schule zu besuchen, und ich übernahm viele Aufgaben von ihm, sodass der Herbst ebenfalls arbeitsreich war. Ich durfte noch nicht zur Schule, weil ich mich immer noch erbrach und zwischendurch heftige Essattacken bekam.
Bei der Kartoffelernte im September musste ich fast jeden Morgen mit dem Pflegevater aufs Feld. Er stach mit einer Kartoffelharke in die Erde und hob die Kartoffeln heraus, ich sammelte sie ein und warf sie auf einen Haufen. Am Nachmittag halfen dann die Schulkinder bei der Ernte, und Bernhard erzählte mir am Abend, wie viel Spaß sie dabei gehabt hatten. Gern wäre ich mit ihnen aufs Feld gegangen statt mit dem Pflegevater.
Nachdem alle Erdäpfel aufgelesen waren, kamen sie eines Nachmittags auf eine Karre. Diesmal mussten wir alle mithelfen, und ich freute mich auf die gemeinsame Arbeit mit den anderen Kindern. Der Pflegevater schob die Karre bis zum Kellerfenster und stellte im Keller ein Brett an die kleine Öffnung. Dann kam er wieder heraus und schaufelte alle Kartoffeln darauf, sodass sie unten im Keller landeten. Jetzt waren wir Kinder gefragt. Die Knollen mussten in große Holzkisten sortiert werden.
Noch nie war ich dort unten gewesen, und als ich vom Flur in das Halbdunkel des Kellers hinabblickte, lief mir vor Angst ein Schauer über den Rücken. Ich drückte mich an die Seite und ließ die anderen Kinder vorgehen. »Monika, worauf wartest du?«, rief der Pflegevater. »Hier drückt sich keiner! Los, runter mit dir.« Daraufhin verschwand er wieder nach draußen.
Bernhard kam noch einmal zurück und streckte mir seine Hand hin. »Komm, du musst keine Angst haben.«
»Aber ich … ich will da nicht eingesperrt werden«, sagte ich leise.
»Wir werden nicht eingesperrt. Du kannst ruhig mitgehen.« Mit zitternden Knien stieg ich ein paar Stufen hinab, doch meine Angst hörte nicht auf, und ich spürte Übelkeit in mir aufsteigen. Schnell hielt ich mir die Hand vor den Mund und würgte ein paar Mal. Bernhard sah mich mitleidig an. »Vati steht draußen am Kellerfenster, er bekommt gar nicht mit, wenn du oben an der Treppe wartest. Und wenn er wieder ins Haus geht, rufen wir dich. Dann musst du schnell kommen, ja?« Ich nickte. Keins der Kinder verriet mich, und so fiel es tatsächlich nicht auf, dass ich nicht mitgeholfen hatte.
Nach der Kartoffelernte gab es ein großes Kartoffelfeuer, bei dem das welke Kartoffelkraut verbrannt wurde. Alle Erntehelfer, die Erwachsenen und die Kinder aus dem Gutshaus, waren eingeladen. Es wurden Kartoffeln ins Feuer geworfen und nach einiger Zeit mit langen Spießen wieder herausgeholt. Solch eine rußschwarze Knolle wollte ich nicht essen. Doch bevor ich mich beschweren konnte, kratzte Tante Frieda die verbrannte Schale ab und hielt mir den dampfenden gelben Erdapfel an einem Spieß hin. Es war eine der köstlichsten Kartoffeln, die ich je gegessen hatte. Die Erwachsenen saßen noch lange ums Feuer herum, und wir Kinder spielten im Dunkeln Verstecken. Bernhard wich nicht von meiner Seite, und ich fühlte mich gut beschützt und genoss ausgelassen, dass wir so lange aufbleiben durften.
»Es ist Kirmes!«, rief Bernhard eines Mittags, als er aus der Schule nach Hause kam. »Bitte, bitte, dürfen wir nach dem Mittagessen hin?«
»Na gut«, sagte die Pflegemutter, »aber geht nicht allein, fragt die anderen Kinder aus dem Haus, ob sie mitgehen.«
»O ja! Das wird lustig, Monika!«, rief Bernhard aufgedreht. »Komm, wir sagen den anderen schon mal Bescheid.«
»Nichts da«, raunzte der Pflegevater von seinem Platz. »Jetzt wird erst einmal gegessen.«
Schweigend saßen wir schließlich am Tisch, aber Bernhard stupste mich mit dem Fuß unter dem Tisch immer mal wieder an und zwinkerte mir zu. Ich wusste nicht, ob ich mich freuen sollte, denn ich wusste nicht, was eine Kirmes war.
Als wir gemeinsam mit Tante Friedas Kindern schließlich aus der Tür hinaustraten, war schon die lustige Jahrmarktsmusik zu hören. Wir liefen über die Straße und zu dem Platz hinüber, und nichts erinnerte mehr an die große freie Fläche, auf der die Kinder aus der Straße im Sommer gespielt hatten. Jetzt standen hier
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