Eine Handvoll Leben: Meine Kindheit im Gulag (German Edition)
herauswachsen. Aber du bleibst für deinen Papa sicher das blonde Engelchen, auch wenn er im Himmel ist.«
»Mmmh.« Mir stiegen Tränen in die Augen.
»Komm, Monika, ich hab noch eine Überraschung für dich. Dafür müssen wir aber hoch auf den Dachboden.«
»Was? Da dürfen wir Kinder aber nicht hin«, sagte ich erschrocken.
»Wer sagt das?«
»Bernhard. Der Vati will das nicht.« – »Na, wenn wir schon ein Geheimnis haben, dann können wir auch zwei für uns behalten, was?« Tante Frieda zog mich an der Hand hinter sich her, und wir schlichen durch den Flur in die obere Etage und stiegen dort die steile Treppe hinauf, die zum Dachboden führte. Ich traute meinen Augen nicht, so viele Schätze gab es unter dem riesigen Dach: ein großes und ein kleines Schaukelpferd aus Holz, eine Eisenbahn, einen Tretroller und jede Menge Kisten mit Spielzeug und allem möglichen Krimskrams. Staunend sah ich mich um, während Tante Frieda etwas aus einer Ecke hervorzog. Und dann stand sie mit einem wunderschönen Puppenwagen vor mir, der fast so groß war wie ein echter Kinderwagen. Sie nahm das Papier hoch, mit dem er abgedeckt war, und in dem Wagen lagen eine rosa Decke, ein Kopfkissen, kleine Tücher und ein Karton. »Mach ihn auf«, sagte Tante Frieda. Ich fand Puppenkleider, -höschen, -hemdchen und -schuhe darin. Und hinter ihrem Rücken holte Tante Frieda nun eine Puppe hervor. »Das bekommst du von mir zu deinem Geburtstag. Es muss nur unser Geheimnis bleiben. Wir sagen, ich hab dir die Puppe und den Wagen einfach so geschenkt.« Damit legte sie mir das Spielzeug in den Arm.
Als wir mit der Puppe im Puppenwagen unten in die Küche kamen, war der Pflegevater schon da, und auch die anderen kamen nach und nach. »Oh, du hast ihr schon das Wägelchen vom Boden geholt? Das wollte ich ihr doch im März zum Geburtstag schenken«, hörte ich die Pflegemutter leise zu ihrer Schwägerin sagen.
»Ach, im Winter kann Monika doch nicht raus zum Spielen. Und jetzt hat sie das richtige Alter«, entgegnete Tante Frieda.
»Na, dann kann der Wagen ja auch hier unten bleiben, und sie spielt hier bei dir damit«, sagte die Pflegemutter verärgert.
Am Morgen meiner Taufe wurde wie jeden Samstag der Ofen im großen Badezimmer befeuert, und ich wurde gebadet; Bernhard kam wie immer nach mir in dasselbe Badewasser. Wir wurden beide herausgeputzt, ich bekam ein neues weißes Kleid mit Schürze an, die mir die Pflegemutter um meinen noch immer vorstehenden Bauch band, und Bernhard zog einen Anzug wie für einen kleinen Herrn an. »Heute flechten wir dir Zöpfe«, sagte die Pflegemutter zu mir und schien sich darüber genauso zu freuen wie ich. Als sie aus weißen Bändern jeweils eine hübsche Schleife um die Zöpfe band, stand ich mit stolzgeschwellter Brust vor dem Badezimmerspiegel, der am Rand noch von der Badeluft beschlagen war.
In der Küche saß der Pflegevater am Tisch und schnitt Bernhard, der schon angezogen war, die Fingernägel. »Setz dich her, Monika, zeig mal deine Hände«, sagte der Pflegevater zu mir.
»Meine Nägel brauchst du nicht zu schneiden, Vati«, sagte ich.
»Soso.« Er schaute sie nur kurz an. »Du frisst sie dir also lieber ab, ja?«, knurrte er.
»Ja, das mach ich immer so. Auch an den Fußnägeln knabbre ich«, erwiderte ich unbekümmert. »Das haben alle in den Baracken gemacht.«
»Aber wir sind hier keine Baracke. Merk dir das!«, brüllte der Pflegevater mit zornesrotem Gesicht. »Das wirst du von nun an lassen! Alle vier Wochen werde ich deine Fuß- und Fingernägel schneiden. Und jeden Samstag, wenn du gebadet hast, wirst du mir deine Hände zeigen, kapiert?«
»Ja, Vati.«
Tante Frieda wartete bereits unten im Flur. Sie sah sehr schön aus und trug sogar einen Hut zu ihrem feinen Mantel. Sie gab mir einen kleinen weißen Beutel, den sie für mich gehäkelt hatte, und darin lag ein feines besticktes Taschentuch mit Spitze. Sie sagte, sie komme aber nur bis zur Kirche mit und würde uns wieder abholen, weil sie noch das Essen vorbereiten müsse. Während sie mit mir sprach, kamen auch Franz und die Mädchen und die Pflegeeltern mit Bernhard, und die Aufbruchstimmung verursachte mir ein leichtes Magengrummeln, das jedoch an der frischen Luft schnell wieder verschwand.
Bis zur Kirche durfte ich mit den Kindern zusammen gehen, und wir hüpften froh gelaunt vornweg, doch vor der großen Kirchentür ergriff der Pflegevater meine Hand. Im Nu war meine Freude verflogen, und meine Beine und mein
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