Eine Handvoll Worte
lächelt, wirkt er jünger, nicht so vergrämt. In seinem Gesicht sieht sie etwas, das ihr bislang noch nie aufgefallen ist: Erleichterung, aber auch Freundlichkeit. Wie man sich in Menschen doch täuschen kann, denkt sie.
»Kann ich Ihnen irgendwie helfen?«
»Nein, ich …«
Er lächelt wieder. »Wie schon gesagt, er ist im alten Gebäude.«
»Vielen Dank. Ich … ich lasse Sie dann mal wieder in Ruhe. Wie ich sehe, sind Sie beschäftigt.« Sie geht an einen Tisch, nimmt eine kopierte Anleitung für die Bibliothek zur Hand, faltet sie sorgfältig und steckt sie beim Hinausgehen in die Handtasche.
Sie sitzt den ganzen Nachmittag an ihrem bald nicht mehr bestehenden Schreibtisch und gibt Anthony O’Hares Namen wiederholt in eine Suchmaschine ein. Sie hat es oft gemacht und ist jedes Mal erstaunt, wie viele Anthony O’Hares es auf der Welt gibt. Da finden sich heranwachsende Anthony O’Hares in Netzwerken, längst verstorbene Anthony O’Hares, die auf Friedhöfen in Pennsylvania begraben sind und deren Leben von Hobby-Ahnenforschern untersucht wurden. Einer ist Physiker, der in Südafrika arbeitet, ein anderer selbst publizierender Autor von Fantasy-Romanen, ein dritter Opfer eines Überfalls in einem Pub in Swansea. Sie studiert jeden Mann genau, prüft das Alter, die Identität, nur für den Fall.
Ihr Telefon klingelt und kündigt eine Nachricht an. Sie sieht Johns Namen und verspürt eine flüchtige Enttäuschung, dass es nicht Rory ist, was sie verwirrt.
»Redaktionskonferenz.«
Melissas Sekretärin steht an ihrem Schreibtisch.
Tut mir leid, konnte gestern Abend nicht lange sprechen. Wollte dir nur mitteilen, dass du mir fehlst. Kann es kaum erwarten, dich zu sehen. J x
»Ja, Verzeihung.« Die Sekretärin steht noch immer neben ihr. »Tut mir leid. Komme sofort.«
Sie liest die SMS noch einmal, rupft jeden Satz auseinander, nur um sicherzugehen, dass sie ausnahmsweise keinen Berg aus unerwähnter Bedeutung auf einen Maulwurfhügel türmt. Aber da steht es: Wollte dir nur mitteilen, dass du mir fehlst.
Sie sammelt ihre Papiere ein und betritt mit hochroten Wangen das Büro, direkt vor Rupert. Es ist wichtig, nicht die Letzte zu sein. Sie will nicht die einzige Journalistin sein, die weder in Melissas Büro noch außerhalb keinen Platz hat.
Schweigend sitzt sie da, während die Artikel der nächsten Tage zerlegt werden und ihr Vorankommen abgewogen wird. Die Demütigungen vom Morgen sind abgeebbt. Selbst die Tatsache, dass Arianna ein Interview mit einer notorisch zurückhaltenden Schauspielerin ergattert hat, stört sie nicht. In ihrem Kopf schwirren die Wörter herum, die ihr unerwartet in den Schoß gefallen sind: Wollte dir nur mitteilen, dass du mir fehlst.
Was hat das zu bedeuten? Sie wagt kaum zu hoffen, dass ihre Wünsche in Erfüllung gehen. Die sonnengebräunte Frau im Bikini ist erfolgreich verschwunden. Die sommersprossige Phantomhand mit den massierenden Fingern ist jetzt Knöcheln gewichen, die vor Missmut weiß sind. Jetzt stellt sie sich John und seine Frau vor, wie sie den ganzen Urlaub hindurch streiten, den sie als letzten Versuch gebucht haben, um ihre Ehe zu retten. Sie sieht ihn erschöpft, wütend vor sich, insgeheim erfreut über ihre SMS, auch wenn er sie davor warnen muss, noch eine zu schicken.
Schraub deine Hoffnungen nicht zu hoch, mahnt sie sich. Es könnte ein kleiner Ansporn sein. Jeder ist am Ende eines Urlaubs den Partner leid. Vielleicht will er sich nur vergewissern, dass sie ihm noch immer treu ist. Aber noch während sie mit sich zu Rate geht, weiß sie, welche Version sie glauben möchte.
»Und Ellie? Die Liebesbriefgeschichte?«
Oh, verdammt.
Sie raschelt mit den Papieren auf ihrem Schoß und schlägt einen zuversichtlichen Ton an. »Na ja, ich habe sehr viele Informationen bekommen. Ich habe die Frau getroffen. Es ist auf jeden Fall genug Stoff für eine Geschichte.«
»Gut.« Melissa zieht elegant die Augenbrauen hoch, als hätte Ellie sie überrascht.
»Aber …« Ellie schluckt, »… ich bin mir nicht sicher, wie viel wir verwenden sollten. Es scheint mir … ein bisschen heikel.«
»Leben die beiden noch?«
»Nein. Er ist tot. Zumindest glaubt sie es.«
»Dann ändere den Namen der Frau. Ich verstehe nicht, wo das Problem ist. Du benutzt Briefe, die sie vermutlich vergessen hat.«
»Oh, das glaube ich nicht.« Ellie wählt ihre Worte mit Bedacht. »Tatsächlich erinnert sie sich an sehr viel. Ich dachte, es wäre besser, wenn ich sie als
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