Eine Hexe mit Geschmack
ich
vorgab, die toten Chimären zu untersuchen.
Der Tod hatte ihren
Gestaltwandler-Rhythmus nur verlangsamt. Die Leichen nahmen ungefähr alle zehn
Minuten andere verstorbene Formen an, jede kleiner als die vorherige. Ich
erwartete, dass sie zum Schluss tote Käfer werden würden, dann Dinge, die zu
klein für das bloße Auge waren, dann überhaupt nichts mehr. Es schien ein für
solche Kreaturen vollkommen normaler Zustand der Verwesung zu sein. Momentan
waren die Leichen die eines Feldhasen, eines Wolfes mit Geweih und eines dreiarmigen
Mannes.
Molch köpfte den Hasen mit einem
Fußtritt. »Sie waren ja gar nicht so gefährlich. Keiner von euch wurde
getötet.«
»Wir sind auch alle sehr schwer zu
töten«, antwortete ich.
Es lag aber doch Wahrheit in
Molchs Beobachtung. Die Chimären, alle an sich schreckliche Monster, waren nie
eine ernsthafte Bedrohung gewesen. Der Zauberer, der sie geschickt hatte,
musste das gewusst haben. Ihr Zweck war gewesen, uns aufzuhalten, vielleicht mit
etwas Glück auch einen von uns zu töten. Vielleicht wollte man uns einschätzen
können.
»Woher wussten sie überhaupt, wo
du zu finden warst?«, fragte Molch.
»Das hat ihnen sicher der Zauberer
gesagt.«
»Woher wusste er es?«
»Höchstwahrscheinlich hat es ihm
die Magie verraten. Genauso wie sie mir sagt, wo ich ihn finden kann.«
»Ich dachte, die Magie sei auf
unserer Seite.«
»Magie ergreift keine Partei. Sie
sieht hauptsächlich zu und wartet, dass etwas Interessantes geschieht, und
manchmal, vor allem wenn Hexen und Zauberer entgegengesetzte Ziele verfolgen,
fördert sie die interessantesten Dinge.«
»Klingt, als sollte sich die Magie
ein Hobby suchen.« »Vielleicht sind das ja wir.«
Die Dämmerung näherte sich. Gwurm
ging Holz sammeln und Molch jagte das Abendessen. Obwohl Wyst und ich uns auf
unserer Suche schrittweise angenähert hatten, setzte ich mich an diesem Abend
aus Gründen, die ich nicht erklären konnte, weit von ihm entfernt. Ich verhielt
mich, wenn es um Wyst ging, oft auf Arten, die ich selbst nicht verstand. Ich
nahm an, das sei normal. Und eine gute Hexe muss nicht alles verstehen. Noch
erwartet sie es.
Wyst krümmte sich. Offensichtlich
hatte er Schmerzen, auch wenn er noch so mühsam versuchte, es zu verbergen.
Jeder flache Atemzug war ein leises Keuchen. Wenige hätten es bemerkt, aber ich
kannte Wyst, wie nur wenige es taten. Sein Schmerz peinigte mich sogar mehr als
bei lebendigem Leib von Goblings gefressen zu werden.
Schweigen schlich sich zwischen
uns. Zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte ich mich mit Wyst unwohl.
Er presste die Finger auf seine
Wunde und zuckte.
»Tu das nicht«, sagte ich.
»Es juckt.«
»Das soll es auch.«
Seine Hand schwebte über dem
Verband. »Lass es in Ruhe.« Er lächelte spöttisch.
Es war schön, den Jungen unter dem
Mann unter dem weißen Ritter zu sehen. Ich lächelte aus Gründen, die mir einmal
mehr nicht ganz klar waren.
Wyst verzog das Gesicht. »Wir
können nicht alle das Glück haben, verflucht zu sein.«
»Das Glück kann wankelmütig sein«,
stimmte ich zu. »Genauso wie die legendäre Unverwundbarkeit eines weißen
Ritters.«
»Eine gängige Übertreibung«, sagte
er.
»Das habe ich daraus geschlossen.«
Dann erzählte mir Wyst von den
Grenzen seiner verzauberten Unverwundbarkeit. Ich fühlte mich geehrt, dass mir
das Geheimnis anvertraut wurde, aber wir hatten nun schon so viele Geheimnisse
geteilt. Unsere physischen Verwundbarkeiten schienen neben geheimen Wünschen
und sterblichen Eingeständnissen beinahe trivial.
Weiße Ritter konnten auf vier
Arten geschädigt werden: Magie, Ertrinken, ehrenvoller Kampf und Korruption.
Keine davon war besonders leicht. Höhere Magie kann niedrigere Magie immer
überwinden, aber eine Magie, die größer war als Wysts Zauber, war sehr selten.
Wyst konnte zwar ersticken, aber sein Zauber ermöglichte ihm, eine Stunde lang
den Atem anzuhalten. Ehrlicher Kampf war eine allgemeinere Schwäche. Selbst
Wyst gab zu, dass er nicht wusste, was ehrbar war und was nicht, bis er
tatsächlich verletzt wurde. Offenbar hatte die Chimäre die Voraussetzungen der
Magie erfüllt.
Der Gedanke der Korruption war für
mich besonders interessant. Die Tugend eines weißen Ritters trieb seinen Zauber
an. Wenn er ihrer beraubt wurde, war er genauso verletzlich wie jeder andere
Mann. Wurde er gefangen genommen, so wurde ein weißer Ritter normalerweise für
einen Monat oder ein Jahr oder wie lange es auch dauerte,
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