Eine hinreißend widerspenstige Lady
Entzifferung der Hieroglyphen verstanden, als dass sie ihm auf die Schliche hätten kommen können - und er war so schlau, diesen Gelehrten tunlichst aus dem Weg zu gehen.
Mit nachdenklichem Blick auf die Abschrift des Rosettasteins meinte Mr. Carsington: „Dieser Papyrus muss wohl etwas ganz Besonderes sein.“
Die Lithografie des Rosettasteins zeigte zuoberst das Fragment eines Hieroglyphentextes. Darunter einen in demotischer Schrift verfassten Abschnitt. Und schließlich den griechischen Text mit seinem bedeutenden Schlusssatz, der verkündete, dass alle drei Texte gleichen Inhalts seien.
„So wie der Rosettastein?“, fragte sie. „Ich wünschte, er hätte ein paar Hinweise auf Griechisch enthalten, aber der Text des Papyrus war ganz in der Hieroglyphenschrift verfasst.“ Sie sah auf. „Oder meinten Sie, ob er wertvoll war?“
Er nickte.
„Nun, wahrscheinlich schon“, erwiderte sie nachdenklich, und schon begann ihr die Wahrheit zu dämmern.
Als Wertgegenstand hatte sie den Papyrus bislang noch nie betrachtet. Zwar wusste sie, dass er mehr als andere Papyri gekostet hatte, aber das machte ihn für sie nicht nützlicher. Vielleicht hatte Miles doch recht, und sie war tatsächlich ein wenig weltfremd. So wäre ihr nie der Gedanke gekommen, ihn wegzuschließen, denn ihre Bücher verwahrte sie ja auch nicht hinter Schloss und Riegel.
„Gewiss war er wertvoll“, bekräftigte sie. „Er war zumindest sehr teuer.“ Sie erzählte ihm die Geschichte von dem unbekannten Pharao und dem angeblich noch unberührten Grab.
„Ich habe Miles vorgehalten, dass er die Händler geradezu ermutigt, solche Lügengeschichten zu erfinden, wenn er so viel zu zahlen bereit ist“, fuhr sie fort. „Aber etwas Besonderes war es schon - wunderschön gezeichnete Hieroglyphen. Ein richtiges Kunstwerk. Die meisten Papyri, die ich kenne, sind nur in hieratischer Schrift verfasst und weit weniger gut erhalten als dieses. Durchaus nachvollziehbar, dass Miles nicht widerstehen konnte.“
Sichtlich verwundert schweifte Mr. Carsingtons dunkler Blick von ihren Studienmaterialien hinauf zu ihrem Gesicht. „Und da überlegen Sie noch, weshalb er gestohlen wurde? Ein Wegweiser zu einem unberührten Grabschatz?“
„Wie hätte ich wissen sollen, dass irgendjemand so töricht sein könnte, diese Geschichte zu glauben?“
„Immerhin scheint Ihr Bruder - ein Altertumsgelehrter - sie ja geglaubt zu haben.“
Miles schien sie wirklich geglaubt zu haben, was daran liegen mochte, dass er in mancherlei Hinsicht noch ein kleiner Junge war. Und recht romantisch veranlagt zudem.
Ihre eigenen romantischen Neigungen waren vor Jahren schon verblüht, verwelkt und abgestorben. Während ihrer Ehe waren sie mumifiziert worden.
„Keine auch nur halbwegs gebildete Person kann allen Ernstes glauben, dass Vanni Anaz wüsste, was in diesem Papyrus geschrieben steht“, befand sie. „Niemand - ich wiederhole - niemand hat die Hieroglyphen bislang entziffert. Allerdings enthielt der Text einige Zeichen, die mit ziemlicher Sicherheit auf eine Erwähnung zweier Könige hindeuteten. Deshalb wollte Miles in Theben nachforschen, weil dort bereits etliche Königsgräber entdeckt worden sind und zweifellos noch weitere gefunden werden dürften. Ob sich darin noch Schätze finden, ist indes sehr fraglich.“
„Irgendjemand scheint aber daran zu glauben“, sagte Mr. Carsington. „Und hat sich dafür sogar die Mühe gemacht, den Papyrus zu entwenden.“
„Aber was wird es ihm nützen“, entgegnete sie ungeduldig, „wenn niemand ihn lesen kann?“
„Mein ältester Bruder Benedict nimmt regen Anteil an öffentlichen Strafprozessen“, meinte Mr. Carsington. „Dabei ist er zu dem Schluss gekommen, dass der gemeine Verbrecher sich weniger durch überragende Intelligenz als vielmehr durch kleinliche Durchtriebenheit auszeichnet.“
Und plötzlich drängte jener Gedanke, den sie bislang verdrängt hatte, da er doch gar zu lächerlich war, mit aller Macht in ihr Bewusstsein.
Miles entführt, Papyrus gestohlen.
„Die Diebe nehmen an, dass Miles ihn lesen kann“, stellte sie fest. „Herrje. Sie müssen entweder furchtbar ungebildet sein oder sehr leichtgläubig oder ... “
„Franzosen“, schloss Mr. Carsington.
„Franzosen?“, wiederholte verständnislos.
„Ich hoffe, dass es Franzosen sind“, sagte er und fügte erklärend hinzu: „Mein Bruder Alistair war in Waterloo.“
„Oh. Gefallen?“, fragte sie.
„Nein, wenngleich die
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