Eine hinreißend widerspenstige Lady
die dunklen Flecken auf ihrem Umhang. Wahrscheinlich hatte sie sich um den sterbenden Mann ebenso gekümmert wie eben um Rupert. Sie war nicht ohnmächtig geworden oder kreischend davongerannt. Stattdessen war sie in das Lager gestürmt, hatte sich eine Waffe geschnappt und ihm geholfen, die Schurken abzuwehren.
Das war sehr dumm und sehr mutig von ihr gewesen.
Seltsames ging in ihm vor - ein plötzlicher Ansturm von Gefühlen, die er nicht benennen konnte. Lust war natürlich auch dabei - schließlich war er ein Mann -, und es hätte schon mehr bedurft als ein paar Blutflecken auf ihrer Kleidung, um ihm das auszutreiben.
Lust war jedoch nur eine Begleiterscheinung, ihm so vertraut und selbstverständlich wie das Atmen. Getragen wurde sie von etwas, das so seltsam und befremdlich war wie die Holzfigur, die in seiner Tasche steckte.
Er wurde aus dem Gefühl nicht schlau und versuchte auch nicht, es zu verstehen, wohingegen er sehr genau verstand, wie erschüttert sie war. Mit gutem Grund.
„Ganz schön viele Tote in nur zwei Tagen“, meinte er und ging zu ihr.
Warnend hob sie die Hand. Sie zitterte - doch so leicht, dass er es kaum bemerkt hätte, wäre er nicht so sehr von ihr gefesselt gewesen.
„Nicht“, sagte sie. „Trösten Sie mich bloß nicht.“
Selbst er verstand es, eine Frau zu halten und sie sich an seiner Schulter ausweinen zu lassen, während er fest die Zähne zusammenbiss und es mannhaft erduldete. Es war furchtbar, aber er konnte es aushalten. Sie in den Armen zu halten, fände er hingegen ganz und gar nicht furchtbar, nur auf das Weinen konnte er verzichten.
„Sie stehen unter Schock“, meinte er. „Oder sind Sie es gewohnt, Männer mit durchschnittener Kehle aufzufinden?“
„Ich will nicht getröstet werden“, beharrte sie. „Ich will ein Bad und eine Tasse Tee - egal, in welcher Reihenfolge. Aber zuerst Sie schloss die Augen, schüttelte den Kopf und öffnete die Augen wieder. „Wir werden es den Behörden melden müssen.“
„Haben Sie den Verstand verloren?“, fragte er. „Ihre Kleider sind voller Blut. Wissen Sie noch, dass Sie selbst mich erst kürzlich darauf hingewiesen haben, wie unfassbar dumm die hiesige Polizei sich anstellt? Man wird glauben, wir hätten ihn umgebracht.“
„Wegzulaufen wird uns nur noch verdächtiger erscheinen lassen“, befand sie.
Nun sehnte auch Rupert sich nach einem Bad - und nach etwas Substanziellerem als Tee. Er wollte nicht schon wieder auf die Wache und zusehen müssen, wie sie sich dort mit den beschränkten Beamten stritt. Weil er der Sprache nicht mächtig war, konnte er weder beruhigend eingreifen noch die erhitzten Gemüter erheitern. Und noch eine Nacht im Gefängnis -getrennt von ihr und unfähig, sie zu beschützen - brauchte er schon gleich gar nicht.
Auch wollte er nicht, dass Beechey sich schon wieder um ihre Freilassung würde kümmern müssen und dann vielleicht zu dem Schluss käme, dass es wohl doch keine so gute Idee gewesen war, Miles Archdales Schwester Rupert Carsington anzuvertrauen. Der Sekretär könnte Mr. Salt gar vorschlagen, dass es besser wäre, wenn Lord Noxley der Dame helfe, und man wohl am besten beraten sei, Mr. Carsington doch in die Wüste zu schicken, wo er mit etwas Glück von einem dreihundert Tonnen schweren Obelisken erschlagen würde.
Vor allem aber wollte Rupert derlei zweifelnde Gedanken vor ihr verbergen.
Und so setzte er eine liebenswert dümmliche Miene auf und sagte: „Wie Sie wünschen, Madam. Das Denken überlasse ich Ihnen.“
Binnen einer Stunde hatten sich Mr. Beechey, die Polizei, der Scheich und ein Übersetzer am Tatort eingefunden. Gerade stand man im Laden, der, von den Blutflecken abgesehen, unbeschadet war. Die hinteren Lagerräume jedoch waren verwüstet worden -vielleicht, so schlug Rupert vor, während einer der Verbrecher Anaz vorne im Laden ablenkte.
„Vielleicht...“, grübelte er weiter, „haben sie zu viel Lärm gemacht, und als Anaz nachsehen wollte, hat einer der Verbrecher ihm die Kehle durchgeschnitten. “
Als dies übersetzt worden war, runzelte der Scheich die Stirn und besah sich den Leichnam noch einmal. Danach wurde der Tote weggebracht.
Unterdessen hatte Beechey Rupert diskret wissen lassen, dass sich die Angelegenheit höchst unerfreulich entwickeln könnte. Vanni Anaz war nicht irgendein ägyptischer Händler; er war ein bedeutender Ausländer, der Mohammed Ali zahllose Dienste erwiesen hatte, weshalb der Pascha ihm sehr zugetan sei. Zudem
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