Eine hinreißend widerspenstige Lady
Stattdessen weckte es nur den Teufel in ihr, und schon zog es sie zu ihm hinab, um von seinem verführerischen Mund Besitz zu ergreifen. Und kaum berührte ihr Mund den seinen, kaum spürte sie sein Lächeln auf ihren Lippen, umfing sie auch schon sein Duft - diese diabolische Frauenfalle, die ihre Vernunft, ihren Willen und ihre Moral auf zehrte.
Dennoch war es nicht seine Schuld.
Sie konnte ihm wirklich nichts vorwerfen. Schließlich war er ein Mann, und es war keineswegs seine Schuld, dass es ihr auf so betrübliche Weise an Moral und Willensstärke gebrach oder was auch immer normale Frauen derlei Versuchungen entgegensetzten.
„Sie verfügen über eine bemerkenswert sinnliche Ausstrahlung“, fuhr sie in die angespannte Stille hinein fort. „Damit habe ich keinerlei Erfahrung. Es tut mir leid, einen falschen Eindruck bei Ihnen erweckt zu haben. Mir wurden moralische Prinzipien beigebracht, an die ich mich halten sollte. In Zukunft werde ich das auch, das verspreche ich Ihnen.“
Er ging ein paar Schritte und kam zurück. Mit der Stiefelspitze stieß er einen Kiesel fort. Leise brummte er vor sich hin. Er hob das Gewehr auf und wischte den Sand ab.
„Das muss gründlich gereinigt werden“, stellte er fest, kühl und distanziert. „Wo zum Teufel stecken die Diener?“
Auf sein Pfeifen hin kam Udail/Tom herbeigeeilt. Kurz darauf erfuhr Daphne, was die Aufmerksamkeit der Dienstboten auch noch lange, nachdem die Schüsse verklungen waren, so sehr gefesselt hatte.
Einer der Soldaten hatte eine spannende Geschichte erzählt - über ein weißhaariges Gespenst, das vergangene Woche nahe Minya ein Boot auf eine Sandbank hatte auflaufen lassen.
Das Gespenst, so der Soldat, hatte nur einen spärlichen Bart, obwohl es wie ein erwachsener Mann aussah. Groß war es - fast so groß wie der englische Herr - und gekleidet wie ein Fremder. Es war blass und trug schwere Ketten an den Füßen.
Manche hätten den Geist vom Ufer aus gesehen, wie er auf dem sinkenden Boot stand. Sie hätten gesehen, wie zwei Männer in den Fluss sprangen und in Todesangst davonschwammen. In derselben Nacht sei das Gespenst weiter flussaufwärts gesichtet worden, wie es in einem kleinen Boot auf die Felsengräber zutrieb. Niemand wagte sich seitdem mehr zu den Gräbern jenseits des roten Hügels, so der Soldat.
Normalerweise würde Daphne über eine solche Geschichte nur geschmunzelt haben. Das Leben der Ägypter war reich an übernatürlichen Wesen. Aber das „weiße“ Haar ließ sie aufhorchen, und sie erbat sich eine ausführlichere Schilderung.
Während sie für Mr. Carsington übersetzte, sah sie seine distanzierte Miene weichen und einen gespannten Ausdruck in seine Augen treten. Auch er hatte seine Vermutungen, um wen es sich hier handeln könnte. Doch wie Daphne war er darauf bedacht, nur gelindes Interesse an der Geschichte zu bekunden.
Als der Soldat zu Ende erzählt und sich zurück zu den anderen begeben hatte, sagte Mr. Carsington leise: „Ihr Bruder, vermute ich mal.“
Das Herz hämmerte ihr vor wilder Hoffnung, Freude und auch Furcht. Um Fassung bemüht, erwiderte sie seinen Blick und nickte stumm.
„Er spielt Gespenst, um die Einheimischen fernzuhalten“, meinte Mr. Carsington. „Sehr schlau von ihm.“
„Miles hatte schon immer eine lebhafte Fantasie“, sagte Daphne nun. „In praktischen Belangen kann er von sehr scharfem Verstand sein, geradezu genial.“
„Gut zu wissen“, befand Mr. Carsington. „Denn nach allem, was ich gehört habe, ist Minya für einen einsamen Europäer keineswegs ein sicherer Ort.“
Wohl wahr. Obwohl sie von bewaffnetem Geleit begleitet wurde und zudem Mr. Carsington dabeihatte, der alle um Haupteslänge überragte, war sie froh gewesen, die Stadt hinter sich zu lassen.
Lina hatte nicht übertrieben. Nie zuvor hatte Daphne so viele einäugige Menschen an einem Ort gesehen oder so viele kränkliche und verkrüppelte Kinder. Da sie wusste, dass Augenentzündungen eine Plage waren, die Ägypten immer wieder heimsuchte, hatte sie Kupfersulfat und Zitronensalbe mit auf die Reise genommen - Arzneien, die zur Behandlung der gefürchteten Ophthalmie empfohlen wurden.
Die Ägypter hatten weder ein Heilmittel, noch trafen sie Vorkehrungen gegen die Krankheit. Aberglaube und magischer Zauber waren weit verbreitet. Allzu oft schon hatte Daphne Kinder - auch hilflose Säuglinge - gesehen, deren Augen von Fliegen verkrustet waren. Eine Mutter hatte sie gar dabei beobachtet, wie sie ihrem
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