Eine hinreißende Schwindlerin
Schreibtisch herum und betrachtete die sich darauf stapelnden Papiere. Sie sah Zahlen über Zahlen. „Heute keine Vogelzeichnungen?“, fragte sie.
„Es ist schon Mittag. Die Dinge, die mir Freude machen, hebe ich mir für den frühen Vormittag auf. Jetzt ist Geschäftliches an der Reihe.“
„Hm.“ Jenny hob ein paar Papiere an, um darunterzusehen. Noch mehr Zahlenreihen. „Wo hast du sie hingetan?“
Er trat neben sie und zog eine Schublade auf. Eine dicke, mit einem grünen Band zusammengehaltene Mappe lag darin. Beinahe andächtig nahm Gareth sie heraus und löste das Band. „Hier.“ Er senkte den Kopf beim Sprechen, als wäre er etwas verlegen. „Ich arbeite gerade an einer Analyse.“ Er blätterte in den Papieren – Diagramme, Zeichnungen und sehr viel Text. Als er wieder aufsah, leuchteten seine Augen. „Wie du weißt, beschäftige ich mich mit Lamarcks Evolutionstheorie und …“ Er verstummte, richtete sich auf und strich glättend über die Papiere. „Das heißt also, ich verlege alles, was mir viel bedeutet, auf den Vormittag. Heute Abend habe ich dann ohnehin etwas anderes vor und du interessierst dich gewiss nicht für Lamarck.“
Jenny legte ihre Hand auf seine. „Aber du.“
Er sah unsicher zur Tür, wie ein Kind, das heimlich Süßigkeiten genascht hat. „Nun ja …“
Jenny zog die Papiere unter seiner Hand weg. „Das ist also alles, was dir etwas bedeutet.“ Sie blätterte, bis sie zu den Tuschezeichnungen ganz am Ende gelangte.
„Hier“, sagte Gareth. „Das ist ein männlicher Ara. Ich wünschte, ich könnte dir das leuchtende Rot seiner Flügelfedern im Original zeigen. Es gibt keine Farbe in England, die diesem Rot gerecht werden würde. Und da ist das Weibchen, weniger farbenfroh und …“ Er blätterte zum nächsten Blatt um und erstarrte.
Denn die nächste Skizze war keine Tuschezeichnung von einem Ara, sondern von ihr. Sogar ihren Namen hatte er daruntergeschrieben, Jenny .
Er hatte sie im selben Stil gezeichnet wie seine Vögel: schwungvolle dunkle Federstriche, die den Eindruck von Lebendigkeit und Licht weckten. Jenny konnte nicht einen falsch wiedergegebenen Gesichtszug entdecken und doch …
„So sehe ich gar nicht aus“, fand sie, denn die Frau, die Gareth gezeichnet hatte, wirkte beinahe ätherisch. Lichtreflexe funkelten in ihren dunklen Augen und auf ihrem Haar.
Er presste die Lippen aufeinander. „Für mich schon“, meinte er schließlich und steckte die Blätter wieder in die Mappe.
„Gareth.“
Er sah sie nicht an, sondern schlang wieder das Band um seine Werke und verknotete es. „Ich sagte dir, in dieser Mappe wäre alles, was mir etwas bedeutet.“
„Gareth.“
Er nahm die Mappe von einer Hand in die andere. „Es gibt Leute“, begann er und hielt den Kopf gesenkt, als richtete er seine Worte an den Schreibtisch, „die glauben, ein Marquess zu sein, bedeutet, Mitglied des Oberhauses zu sein und jede Menge Geld von armen, kleinen Pächtern einzutreiben. Sie glauben, es bedeutet, dass man einen Speisesaal vor den Earls und nach den Dukes betritt. Sie glauben, es bedeutet, prächtige Kleider zu besitzen und selbst in Zeiten des Hungers immer genug zu essen zu haben. Sie glauben, ein Marquess könnte aus einer ganzen Schar schöner und williger Frauen auswählen.“
„Und du nicht?“
Er zeichnete mit dem Finger eine Linie auf die Mappe. „Nun ja, vielleicht eine schöne Frau. Aber das ist nicht die Essenz dessen, was es bedeutet, hier in England ein Marquess zu sein. Weißt du, irgendwann vor langer, langer Zeit gab es in der Geschichte meiner Familie einen ersten Lord, der als Belohnung für seine großen Verdienste vom König aus dem gemeinen Volk hervorgehoben wurde.“
„Was für ein Verdienst war das bei deinem Vorfahren?“
„Die Waliser verprügelt zu haben. Doch du musst wissen, dass der Titel eine Belohnung mit einem Stachel ist, es ist keine einmalige Belobigung für erwiesene Dienste. Sie ist ein Versprechen, das deinem erstgeborenen Sohn aufgezwungen wird, dann dessen Erstgeborenem und immer so weiter. Durch den Titel sind sie gebunden, dem Land zu dienen. Mein Großvater war sehr hart, aber dafür gab es einen Grund.“ Er legte die Mappe zurück in die Schublade und schob diese langsam zu. „Wenn ein Marquess einem Mann die Pacht abnimmt, verdient er nicht nur Geld damit. Er legt gleichzeitig ein Gelübde ab. Manchmal kann ich nachts nicht schlafen, weil ich an all diese Gelübde denken muss. Soll ich eine
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