Eine Hochzeit im Dezember: Roman (German Edition)
leid.
Sie blickte von einem zum anderen am Tisch. Bill und Bridget. Jeder eine gescheiterte Ehe hinter sich. Eine zweite Ehe vor sich. Brustkrebs. Anfangsstadium? Endstadium? Kinder, die sich daran würden gewöhnen müssen, einer Patchworkfamilie anzugehören. Sie hatte Matt beobachtet, wie er Melissa gemustert hatte, verstohlen und manchmal ganz offenkundig. Die beiden waren ab heute Stiefgeschwister, kannten sich aber anscheinend kaum.
Nora. Fast noch ein Kind, als sie einen Mann geheiratet hatte, der leicht ihr Vater hätte sein können. Einen schwierigen Menschen nach allem, was man hörte, in seiner Genialität und Berühmtheit wahrscheinlich nicht nur aufregend, sondern auch anstrengend. Jetzt Witwe mit einer Menge Verantwortung, aber offenbar ohne Partner, der sie mit ihr hätte tragen können.
Harrison. Den Agnes als Jungen sehr bewundert hatte. Der einzige unter ihnen, der ein volles Stipendium für die Kidd Academy bekommen hatte. Von seiner verwitweten Mutter großgezogen. Nach außen hin zumindest schien Harrison von ihnen allen das normalste Leben zu führen: eine Frau, zwei Söhne, eine gute Stellung, ein Zuhause. Aber es war an ihm eine versteckte Angst zu spüren, die sie sich nicht erklären konnte. Vielleicht war es einfach so, daß er in dieser Gruppe nicht umhin konnte, an Stephen zu denken. Wie sie alle nicht umhin konnten, an Stephen zu denken, einen Jungen, der scheinbar alles gehabt hatte, was man sich vom Leben wünschen konnte – glänzendes Aussehen, sportliche Begabung, Charme und Geld –, dem es aber doch an einer grundlegenden inneren Authentizität gefehlt und den es deshalb getrieben hatte, sich in einer Art Raserei ganz nach vorn zu peitschen, an die Spitze der Meute. Anders als Harrison, der immer ein wenig zurückhing, eher Einzelgänger war, Beobachter.
Jerry. In einer kalten, wenn nicht zerrütteten Ehe lebend. Ein Kind, autistisch.
Rob. Glücklich jetzt mit einer Berufung und einem Geliebten, glücklich und erfolgreich. Die ersten Jahre nach der Schule waren sicher schwierig gewesen. Der Kampf um einen Platz an der Juilliard. Der Eintritt ins Leben als Homosexueller. Das Leben eines homosexuellen Mannes war bestimmt nicht einfach, auch wenn es äußerlich glücklich und erfolgreich zu sein schien, dachte Agnes. Oder war das schon wieder ein Vorurteil?
»Rob«, sagte Harrison, »wie geht es eigentlich deinen Eltern? Leben sie immer noch in Manchester?«
»Nein, sie sind nach North Carolina gezogen, in die Nähe meiner Schwester. Sie hat drei Kinder. Was ist mit deiner Mutter? Ist sie noch in Chicago?«
»Ja«, antwortete Harrison. »Sie hat vor zwei Jahren aufgehört zu unterrichten. Wir sehen sie häufig. Sie versteht sich großartig mit unseren Jungs.«
»Wer von uns wohl zuerst Enkel haben wird?« meinte Nora.
»Ach, du lieber Gott«, rief Bill, »du kannst einem aber wirklich das beste Essen verderben.«
Agnes rechnete. Sie, Nora oder Rob würde es nicht sein. Jerry wahrscheinlich auch nicht. Blieben nur Bill und Bridget und Harrison. Melissa starrte zu Boden, Matt sah aus, als wünschte er sich meilenweit weg.
»Weiß eigentlich jemand, was aus Artie Cohen geworden ist?« fragte Agnes, um das Thema zu wechseln. Artie, einer ihrer Mitschüler in Jim Mitchells Kurs, war ein spezieller Freund von Stephen gewesen.
»Ich habe gehört, er sei in Indonesien gelandet«, sagte Rob, »aber mit Sicherheit weiß ich es nicht.«
»Und was macht er da?«
»Vielleicht ist er Arzt«, meinte Rob. »Peace Corps oder so was. Ich glaube, ich habe das vor ungefähr zehn Jahren irgendwo gelesen.«
»Hut ab«, sagte Agnes.
»Bekommt sonst noch jemand von euch das Mitteilungsblatt für die ehemaligen Schüler?« fragte Rob.
»Ich«, sagte Agnes. Sie las das Blatt jedesmal genau durch, um zu sehen, wer wo tätig war, wer wen geheiratet hatte, wer gestorben war. »Ihr wißt ja sicher alle, daß Joe Masse tot ist?« fragte sie.
»Ein Autounfall?« sagte Rob.
»Nein, er saß in einem kleinen Flugzeug, das in einem norditalienischen Skigebiet verunglückt ist.«
»Ach ja, das habe ich gehört«, sagte Jerry.
»Traurig«, sagte Nora.
»Hat irgend jemand mal mit Stephens Vater gesprochen?« fragte Jerry.
Nora sah zuerst Harrison an, dann wieder Jerry. »Ich«, sagte sie. »Ich besuche ihn ab und zu, meistens auf der Fahrt nach Boston.«
»Er lebt noch in Wellesley?« fragte Jerry.
»Ja. In diesem Riesenhaus. Ganz allein«, fügte Nora hinzu.
Harrison, der Rotwein trank,
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