Eine Hochzeit im Dezember: Roman (German Edition)
willst, geh in den Speisesaal, jederzeit. Da findet dich dann schon jemand und versorgt dich.«
Nora schloß die Tür hinter sich. Agnes legte sich aufs Bett und rutschte dann auf der Steppdecke hoch, bis ihr Kopf auf dem seidig knisternden Kopfkissen ruhte. Sie dachte an Jim, wie sehr sie wünschte, er wäre mit ihr hier. Agnes stellte sich vor, sie würde Nora und die anderen mit ihrem Geliebten überraschen; stellte sich vor, wie sie plötzlich im Mittelpunkt stehen würde, weil sie einen ehemaligen Lehrer zu ihrem Treffen mitgebracht hatte – und einen Hauch von Skandal. Aber noch einmal, nein , das würde sie nicht tun. Es wäre gemein, Bridget bei ihrer Hochzeit in den Hintergrund zu drängen. Es würde also kein Jim hier sein, auch wenn sie sich nach ihm sehnte. Sie strich mit der Hand über die Steppdecke und berührte die Stelle, wo Jim hätte liegen können. Manchmal war die Sehnsucht bitter und wild, konnte innerhalb eines Augenblicks in Wut oder Selbstmitleid umschlagen. Warum ich? schrie Agnes dann auf. Warum durfte sie nicht das einzige haben, was sie wirklich haben wollte? Sie hätte alles dafür hergegeben. Ja, wirklich. Selbst wenn sie nur ein Jahr bekäme. Würde sie das wollen? Ein Jahr häufiger und regelmäßiger Treffen – und dann nie wieder? Ja, dachte sie, ich würde es wollen. Ganz gleich, wie schwer die Trennung nach diesem einen Jahr wäre.
Andererseits, dachte sie, hatte sie ja etwas. Es war etwas Unbestimmtes und Unbestimmbares, aber es war ihr Leben.
Agnes seufzte und drehte sich auf den Bauch. Sie wünschte, sie könnte vergessen. Aber der Luxus des Vergessens stand ihr nicht zur Verfügung.
Sie sprang vom Bett auf und ging zum Fenster. Sie drückte die Stirn an das Glas. Wenigstens würde sie Jim wieder schreiben können, ohne aufdringlich zu erscheinen, auch ohne zuerst eine Antwort von ihm erhalten zu haben. Wie sollte sie ihm nicht über dieses Treffen seiner ehemaligen Schüler berichten? Er wollte doch bestimmt von ihnen hören. Sie würde ihm einen langen Brief schreiben und den Gasthof, Nora und die anderen so anschaulich schildern, wie sie konnte. Sie würde im Plauderton schreiben – nein, lieber witzig, einen Brief, bei dem er lachen mußte. Der Brief würde keine Liebesworte enthalten. Es wäre lediglich eine Mitteilung von einem Freund an einen anderen, dicht und detailliert.
Agnes sah einen Mann, die Hände in den Hosentaschen, aus dem Haus kommen. Er trug einen marineblauen Pullover über einem weißen Hemd. Sein Haar war dunkel und begann sich am Scheitel zu lichten. Der Mann bog in einen Fußweg ab, der zum rückwärtigen Teil des Hauses führte, und Agnes erkannte Harrison Branch. Sie wollte das Fenster öffnen, aber es war verriegelt. Bis sie es entriegelt hatte, war Harrison um die Ecke verschwunden. Agnes hätte gern gerufen und ihn mit ihrer Stimme und ihrem Anblick überrascht. Sie hätten vielleicht zusammen zu Mittag essen können. Sie erinnerte sich an den Jungen, schüchtern und begabt, ein Sportler, der sie nicht nervös machte, wie die anderen Jungen das konnten und taten. Ein Junge, der nicht besonders hübsch war – nicht so wie Stephen zum Beispiel –, dessen Gesicht aber sofort sympathisch war. Harrison war mit den allseits beliebten Jungen befreundet gewesen und hatte doch nicht zu ihnen gehört. Agnes vermutete, daß er vielleicht ein Außenseiter geblieben wäre, wenn er nicht im Sport, vor allem auf dem Baseballfeld, so gut gewesen wäre. Sie hatte ihn oft ganz allein in Fenton durch die Straßen ziehen sehen.
Tja, Stephen. Man konnte nicht an Harrison denken, ohne sofort auch an Stephen zu denken. Stephen, der sich von seiner Angst vor Langeweile manchmal blindlings hinreißen ließ. Stephen, der es schaffte, trotz seiner Popularität liebenswert zu bleiben, bei dem so oft die Lust am Risiko, die ihnen so sehr gefallen hatte, die Oberhand gewann. Stephen, der unverrückbar an seinem Platz blieb, während die anderen sich weiterbewegten – älter wurden, heirateten, Kinder bekamen, Affären hatten, scheiterten, sowohl an der Liebe als auch an der Arbeit –, der einfach angehalten hatte. Wie die Menschen im World Trade Center. Wie die Menschen in Halifax.
Agnes setzte sich an den Schreibtisch, und ließ Innes im Spiegel über der Kommode den Sitz seiner Krawatte prüfen. Sie griff zum Stift.
Innes überlegte, ob er beim Abendessen der einzige Mann in Zivil wäre, und hoffte, daß Dr. Fraser sich nicht zur Reserve gemeldet hatte. Das
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