Eine Hochzeit im Dezember: Roman (German Edition)
das Logo sich nicht in die Gedanken des Briefschreibers drängte.
Nora, die Reine, dachte Harrison.
Liebe Evelyn,
wie lange ist es her, daß ich mich das letzte Mal hingesetzt habe, um Dir zu schreiben? Ein Jahr? Damals in London? Ich habe Lust, es wieder zu tun, und hoffe, Du störst Dich nicht an diesem weitschweifigen Brief und daran, daß ich längst wieder in Toronto sein werde, wenn Du ihn bekommst.
Ich denke an die Zeit, als Du in Toronto gelebt hast und ich in Montreal und wir uns ständig geschrieben haben. Ich lauerte auf die Schritte des Briefträgers auf dem Fußweg (ich war wie ein Hund; ich konnte ihn schon aus drei Häusern Entfernung erkennen) und rannte dann die Treppe hinunter, um ihm den Umschlag – immer grau – förmlich aus der Hand zu reißen und vorsichtig, als wäre er zerbrechlich, in mein tristes Zimmer hinaufzutragen. Beim Lesen bin ich jedesmal in einen Zustand höchster Verzückung verfallen. Vielleicht geht es mir darum, diesen Zustand wiederherzustellen; er ist ja selten geworden mit den Jahren. Stellt sich eher ein, wenn ich die Jungen betrachte. Wie geht es ihnen denn? (Absurd, eine Frage zu stellen, auf die ich die Antwort schon wissen werde, wenn Du den Brief liest.) Hoffentlich sind sie während meiner Abwesenheit nicht allzu nervig. Ich glaube übrigens, daß sie insgeheim auch mal gern Ferien von Vater oder Mutter haben, schließlich ist jede Abwechslung im Alltag des Schuljahrs dem ewiggleichen Trott vorzuziehen.
Ich bin heute morgen hier im Gasthof angekommen. Es ist ein ungewöhnliches Haus – überall Giebel und Veranden und unwahrscheinliche Dachsilhouetten, klingt vielleicht nach englischem Schauerroman, aber so ist es nicht. Möglich, daß es früher so war, als Carl Laski noch hier lebte, aber Nora, seine Witwe, die Frau, die den Gasthof betreibt und Bridgets und Bills Hochzeit ausrichtet (Du erinnerst Dich, ich habe von ihr gesprochen), hat etwas überaus Einladendes daraus gemacht – total im Trend mit Espressomaschine und Whirlpools von Jacuzzi in den Badezimmern. Die Zimmer strahlen Ruhe aus, und man hat das Gefühl, »angekommen« zu sein. Nora ist in dieser Hinsicht wirklich ein Genie. Vielleicht hat sie ihre wahre Berufung gefunden. Sie wirkt jedenfalls glücklich, wenn auch ein wenig überfordert, und wir alle hier staunen über dieses unglaubliche Wetter – sonnig und über 20 Grad. Ist es bei Euch auch so schön? Ich sehe das als gutes Omen für Bill und Bridget, ich wünsche den beiden von Herzen das Beste. Bridget hat einen fünfzehnjährigen Sohn, ich bin gespannt, ihn kennenzulernen. Würde mich interessieren, ob Bill ihm schon einen Baseballhandschuh übergezogen hat.
Ich habe nie viel über meine Jahre an der Kidd gesprochen. Du hast mich einmal gefragt, warum das so ist. Ich glaube – nein, ich weiß –, es liegt daran, daß die Zeit dort ein so schlimmes Ende nahm. Ich habe Dir erzählt, daß mein Zimmergenosse einen Monat vor dem Abschluß gestorben ist, aber ich glaube nicht, daß ich Dir erzählt habe, wie es dazu kam.
Wir waren alle befreundet. Stephen (mein Zimmergenosse), Bill, Jerry, Rob und ich waren von unserem zweiten Jahr an in der Baseballmannschaft der Schule. Stephen war ein Riesentalent und hätte sicher ein Baseball-Stipendium an einer Universität bekommen – an einer besseren, als er eigentlich verdiente, muß ich dazu sagen, er war nämlich nur ein mittelmäßiger Schüler, der sich hauptsächlich mit Bluffs und Redegewandtheit durchlavierte. Du kannst Dir denken, daß es deswegen zwischen uns ständig Spannungen gab, denn ich war ja immer der Fleißige, der geackert und brav alles gelesen hat, meistens schon drei oder vier Tage vor dem Termin. Aber wir waren trotzdem enge Freunde. Stephen war etwas Besonderes, er war jemand, der den größeren Zusammenhang sah und uns Anstoß zum Nachdenken gab. Und wir wären natürlich alle gern wie er gewesen. Gutaussehend, trifft es nicht wirklich.
Das Wort ist zu statisch, finde ich. Sein Gesicht konnte von einem Moment auf den anderen lebendig werden, und sein Lächeln war einfach umwerfend, man wollte irgendwo in seiner Nähe sein. Er hatte Geld, das hatten nicht alle von uns (Kidd war nicht so eine Schule). Sein Vater hatte in den frühen Jahren der Telekommunikation ein Vermögen gemacht und besaß ein Riesenhaus in Wellesley. Ich glaube, es hatte sieben Bäder. Der Vater hatte sich scheiden lassen und eine jüngere Frau geheiratet – Angelica hieß sie, wenn ich nicht
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