Eine Hochzeit im Dezember: Roman (German Edition)
Harrison, »gebt nur Kanada die Schuld.«
Nora lachte. Harrison trat zum Spülbecken und blieb hinter ihr stehen. Er wollte ihren Nacken küssen. Ihm schien, als hätte jeder Moment des Tages zu diesem einen geführt. Als sollte er den Abschluß einer bestimmten Geschichte bilden. Möglicherweise den Beginn einer neuen.
»Ich weiß, es geht mich nichts an, aber war Carl dir treu?« fragte er.
»In der Realität, ja«, sagte sie schnell. »In der Phantasie, nein.«
Ihre Antwort brachte Harrison zum Schweigen.
»Es ist Viertel vor zwei«, sagte Nora. Sie bemerkte den Mehlfleck an ihrem Ärmel und versuchte, ihn wegzuwischen.
Harrison spürte, daß Nora jetzt vielleicht innerlich so weit frei war, sich von ihm berühren zu lassen. Diese Macht und das Wissen um die Konsequenzen – für ihn, für sie, für Evelyn –, stiegen ihm ein wenig zu Kopf. Sein Verlangen, von dem Moment an wahrnehmbar, als er sie im Vestibül das erste Mal gesehen hatte, war über den Tag durch Nähe und Erinnerung einerseits geschärft und durch Alkohol und Erfahrung andererseits gemildert worden. Wenn er den Moment verstreichen ließ, würde er es bereuen. Monatelang. Vielleicht jahrelang. Wenn er sie küßte, würde er das ebenfalls bereuen. Vielleicht jahrelang.
Sie spritzte Geschirrspülmittel auf einen Teller und nahm einen Schwamm. Er legte ihr die Hand auf die Schulter. »Geh schlafen«, sagte er. »Ich mache das hier.«
Sie hätten ein altes Ehepaar sein können. Eine gewisse Entschädigung.
Nora riß ein Blatt von der Küchenrolle und trocknete sich die Hände. »Du solltest auch schlafen gehen«, sagte sie.
In Jackett und Abendschuhen ging Harrison in den Schnee hinaus. Für jeden, der aus einem der oberen Fenster herunterschaute, war er ein Mann, der seine Aktentasche im Auto vergessen hatte. Das konnte nicht bis zum Morgen warten. Das, worauf Harrison nicht warten konnte, war die heilsame frische Luft, die prickelnde Kälte auf seinem Gesicht. Er spürte, wie sein Blick klar wurde. Die kalte Luft schmerzte in der Lunge. Nora hatte recht gehabt, als sie von dem Teich und dem aufgewirbelten Schlamm gesprochen hatte. Es war gefährlich gewesen, hierher zu kommen, für ihn, der jahrelang der Gefahr aus dem Weg gegangen war. Er rutschte ein wenig auf dem Schnee. Drei, vier Zentimeter schon. Er öffnete die hintere Tür des gemieteten Taurus und nahm seine Aktentasche heraus. Darin war das Manuskript eines englischen Romanautors, fesselnd und glänzend geschrieben. Harrison war bereits sicher, daß das Buch gut war. Er hätte es drucken können, ohne einen weiteren Blick hineinzuwerfen, aber heute abend würde ihn das Buch, wenn er Glück hatte, in eine Welt weit weg von den Berkshires befördern. In einen gesunden Schlaf, wenn er noch mehr Glück hatte.
Er war unsicher in den Schuhen mit den Ledersohlen. An der Vordertreppe des Gasthofs vorbei ging er über einen Rasen, der am Nachmittag noch grün gewesen war. Sollte ein schlafloser Leidensgefährte aus dem Fenster schauen, so würden ihm die Fußspuren im Schnee Harrisons Weg verraten. Harrison ging weiter, bis er um die Ecke des Hauses zu dem kleinen Anbau sehen konnte, in dem Noras Apartment lag. Es war noch Licht. Er dachte an die Terrassentür zu ihrem Zimmer, an einen höchstwahrscheinlich theatralischen Auftritt, wog die Chancen, ob sie ihn hereinlassen würde. Er war überzeugt, daß sie gut standen.
Seine Jacke war eher für den Sommer gemacht. Sein Kopf war unbedeckt, feucht jetzt vom schmelzenden Schnee. Er wollte nicht mit Bedauern auf sein Leben zurückblicken. Er hielt sich für zu alt für die romantische Liebe. Er wollte eine zweite Chance, eine Gelegenheit, die Uhr zurückzudrehen. Beinahe augenblicklich nahm er diesen Wunsch zurück, denn dann hätte es ja auch seine Söhne Charlie und Tom nicht gegeben. Doch diese Wahrheit, so eindeutig sie war, konnte das Verlangen nicht dämpfen. An diesem Abend hätte Harrison gern zwei Parallelleben geführt: das eine in Toronto mit seiner Frau; das andere mit Nora in ihrem Zimmer.
Schließlich schüttelte Harrison den Schnee vom Kopf und kehrte, seinen Fußstapfen folgend, um. Er blickte zu den Zimmern des Gasthofs hinauf. In der ersten Etage brannte ein Licht, aber es stand niemand am Fenster.
Samstag
INNES ERWACHTE FRIEREND und hungrig. Einen Moment lang, bevor er sich zurechtfand, glaubte er, wieder an der Universität zu sein. Er hob den Kopf und erinnerte sich, daß er in seinem Zimmer oben im Haus
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