Eine Hochzeit im Dezember: Roman (German Edition)
ganz umfaßt. Nicht einmal ein täglich geführtes Tagebuch würde dir sagen, was du wissen willst. Wer hat was wann gedacht. Wer hatte was für Träume. Eine Ehe, das sind mindestens zwei sich überschneidende Geschichten, von denen wir immer nur eine kennen.«
Alle seine Fragen blieben Harrison im Halse stecken. Wie würde die Geschichte seiner eigenen Ehe aussehen? Würde sie das Wochenende einschließen, an dem er und Evelyn im Château Frontenac übernachtet und ihr ganzes Geld für den Zimmerservice auf den Kopf gehauen hatten, weil sie zwei Tage lang im Bett geblieben waren? Den Streit, den sie am Ende dieses Wochenendes auf dem Parkplatz vor Harrisons Haus um Winterreifen gehabt hatten? Das Gefühl der Leere, das Harrison an Sonntagabenden überkam, wenn die Jungen beschäftigt waren und Evelyn und er einander nichts zu sagen hatten? Oder wäre diese Erzählung durch jenen einen Augenblick vollkommenen Glücks definiert, den er erlebt hatte, als er und Evelyn und die Jungen beim Antritt ihrer Reise von Calgary nach Vancouver im vergangenen Frühjahr in den kanadischen Ausflugszug gestiegen waren?
»Ich wollte nur wissen, ob du glücklich warst«, sagte er.
»Ich war glücklich. Manchmal«, antwortete Nora.
»Gut.«
»Jerry war ja wirklich in Fahrt, nicht?« meinte Nora. »Möchtest du ein Glas Wasser?«
»Gern«, sagte Harrison. »Ein mörderischer Kater kündigt sich an.«
Nora nahm zwei Gläser aus einem Regal, drehte den Hahn auf und ließ das Wasser laufen. Sie hielt einen Finger unter den Strahl, um die Temperatur zu prüfen, und füllte die Gläser.
»Hätte Jerry nur noch ein einziges Wort über Stephen gesagt, dann hätte ich ihm eine runtergehauen, das schwöre ich dir«, sagte Harrison.
Nora lachte, als sie die Gläser auf die Bar stellte.
»Lach nicht. Ich meine es ernst.«
»Ich würde ohnmächtig umfallen, wenn ich sähe, daß du jemandem eine runterhaust. Ich bezweifle nicht, daß du deine Mittel hast, einen Gegner niederzumachen. Aber Ohrfeigen gehören bestimmt nicht dazu.«
»Wie hält Julie es nur mit ihm aus?«
»Es war tapfer von ihr, so lange zu bleiben. Sich all unsere Schwänke anzuhören. Es muß ja nervtötend für sie gewesen sein.«
»Für wie alt hältst du sie?«
»Sechsunddreißig? Vierzig? Josh hat mir gefallen. Das – das freut mich für Rob.«
»Ich glaube, keiner von uns hat es gewußt. In der Schule.«
»Vielleicht hat er es selbst nicht gewußt.« Nora trank von ihrem Kaffee. »Er ist sehr elegant, sehr geschliffen, nicht wahr?«
»Das ist wahrscheinlich der europäische Einfluß«, meinte Harrison. »Wie ist das eigentlich genau gewesen? Er hat eines Tages aus heiterem Himmel sein Talent entdeckt?«
»Nein. Nein«, sagte Nora. »Er hatte schon seit seiner frühen Kindheit Klavierunterricht. Seine Begabung wurde früh entdeckt. Er entschied nur für sich, daß er nichts davon wissen wollte – ziemlich lange jedenfalls. Als er das erste Mal an der Juilliard vorspielte, wurde er nicht genommen. Von da an war ihm die Sache Ernst.«
»Ich habe Rob immer unheimlich gern gehabt«, sagte Harrison.
»Oh, ich glaube, das war bei uns allen so.«
»Ich verstehe nicht, wie Bill und Jerry Freunde bleiben konnten.«
»Hinter Jerrys Gehabe steckt einiges mehr«, sagte Nora. »Er spendet Millionen – wirklich Millionen – an wohltätige Einrichtungen.«
»Wirklich?«
»Am wichtigsten sind ihm die ›Ärzte ohne Grenzen‹. Julie hat es mir erzählt.«
»Das wußte ich nicht.«
»Vor der Trauung müßt ihr beide wenigstens einen Waffenstillstand schließen«, sagte Nora. »Jerry brächte es fertig, Bridget die Schau zu stehlen, aber du möchtest das doch bestimmt nicht.«
»Nein, natürlich nicht«, stimmte Harrison kleinlaut zu.
»Magst du ein Stück Torte? Wir haben vom Jungbacker Lunch noch eine Menge übrig. Sie schmeckt köstlich. Du magst doch Kokosnuß?«
»Ich liebe Kokosnuß.«
Nora tauchte in die Düsternis der Speisekammer und kam mit einem angeschnittenen Kuchen auf einer Glasplatte wieder.
»Das war interessant«, bemerkte Harrison, »was Agnes da erzählte, daß sie von Englisch auf Geschichte umsteigen mußte, als sie die Stellung an der Kidd bekam. Daß ohnehin das ganze Leben aus Geschichten bestünde und es insofern keine Rolle gespielt habe. Ich kann mir vorstellen, daß sie eine tolle Lehrerin ist.«
»Ihr Hockeyteam hat bei einem großen Wettbewerb gesiegt.« Nora nahm zwei Kuchenteller aus dem Regal. »Du solltest sie bei
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