Eine Hochzeit im Dezember: Roman (German Edition)
der Familie Fraser in Halifax war. Als er auf die Uhr schaute, sah er, daß er verschlafen hatte. Spätestens um sieben hatte er auf sein wollen, um noch die Unterlagen durchzulesen, die Dr. Fraser ihm gegeben hatte. Jetzt würde er höchstens einen kurzen Blick darauf werfen können.
Fröstelnd wusch er sich und zog seinen einzigen Anzug an, ein frisches Hemd, nicht das von gestern. Er mußte sich erkundigen, wie das hier mit der Wäsche gehalten wurde. Und er mußte einen ordentlichen Schneider finden. Mrs. Fraser würde ihm zu beidem Auskunft geben können. Da er auf dem Teppich seine Socken nicht ausmachen konnte, ging er zum Fenster und zog die schweren Verdunkelungsvorhänge auf. Der Blick ging auf den Hafen, funkelnd und kalt. Das Wasser glitzerte zwischen Frachtern, Transportschiffen und Fischkuttern. Trotz Dampf und Rauch aus Dutzenden von Kesseln und Öfen war der Morgen schön. Über der Straße stieg der Atem eines warmen Hauses durch einen Blechkamin in die kalte trockene Luft hinauf.
Innes fand den Hafen häßlich, von Krieg und Handel so zugerichtet – von Treibstofftankern, Textilfabriken, Rangierbahnhöfen und geschäftigen Werften –, und er versuchte, sich das Land vorzustellen, wie es vielleicht vor tausend Jahren gewesen war: der natürliche Hafen im Licht schimmernd, gegenüber die bewaldeten Ufer von Dartmouth. Unten im Hafen waren zwei große Schiffe in Bewegung.
Innes verließ sein Zimmer und folgte seiner Nase ins Speisezimmer. Mrs. Fraser und Louise saßen am Tisch, die eine noch am Beginn ihres Frühstücks, die andere fast fertig. Mrs. Fraser, deren Gedeck noch abgeräumt werden mußte, schrieb, eine Tasse Tee neben sich, an einer Liste. Louise hatte einen noch fast gefüllten dampfenden Teller vor sich. Innes schoß der Gedanke durch den Kopf, daß in dieser Zeit sogar die Kleider der Frauen etwas Militärisches hatten. Mrs. Frasers Bluse hatte einen breiten Matrosenkragen, Louises hatte Schulterklappen und Messingknöpfe. Er wünschte guten Morgen und trat zu der Mahagonikredenz, auf der mehrere silberne Schalen warmgehalten wurden. Unter den Deckeln fand er schottische Eier, Räucherhering und eine Art Porridge. In einem silbernen Toasthalter standen dicke Scheiben braunes Brot. Verschiedene Marmeladen und Gewürze warteten auf einer Platte.
Innes nahm sich Eier und Räucherheringe (eine Delikatesse) und zwei Scheiben Toast. Da er sich nicht anmaßen wollte, am Tischende zu präsidieren, setzte er sich den Frauen gegenüber. Er schüttelte seine Serviette auf.
Louise und Mrs. Fraser hatten sich so gesetzt, daß der Gast freien Blick auf den Hafen hatte. Vier Bogenfenster öffneten sich in der dem Hafen zugewandten Mauer, eigens eingebaut, vermutete Innes, um dieses Blicks willen, der in Friedenszeiten vielleicht ansprechender war. Die Gesichter Mrs. Frasers und ihrer Tochter, die mit dem Rücken zum einfallenden Licht saßen, waren in Schatten getaucht. Innes fragte sich, ob die Hausetikette beim Frühstück Konversation verlangte.
»Mr. Finch«, bemerkte Louise schließlich, »Sie haben für den Beginn Ihrer Lehrzeit in Halifax wirklich einen herrlichen Tag gewählt.«
»Ja«, antwortete Innes. »Der Himmel ist wolkenlos.« Er zögerte einen Moment. »Ich habe gestern abend Ihre Schwester gefragt, ob Sie mich nicht mit meinem Vornamen anreden möchte. Darf ich die Bitte auch an Sie richten?«
Mrs. Fraser hob mit einem Ruck den Kopf von ihrer Liste, und Innes bedauerte sogleich seine Worte. Zweifellos machte Mrs. Fraser sich Gedanken darüber, wie Innes dazu gekommen war, mit einem so persönlichen Ansinnen an ihre ältere Tochter heranzutreten.
»Wenn es genehm ist«, fügte Innes hinzu.
Louise, die erfreut war und Innes’ Absicht möglicherweise mißverstanden hatte, lächelte ihm zu. »Das wäre mir sehr genehm«, versicherte sie. »Sind Sie nervös? Vor Ihrem ersten Tag?«
Er hatte gar nicht an Nervosität gedacht. Vielleicht hätte er es tun sollen. »Ich hoffe, ich komme gut zurecht«, sagte er.
»Oh, ich weiß, daß Sie gut zurechtkommen werden«, entgegnete Louise, die nicht merkte, daß ein Toastkrümel an ihrer Unterlippe klebte. »Aber ich an Ihrer Stelle – ich könnte mir nicht vorstellen, jemandem mit dem Messer in den Augapfel zu schneiden.« Sie schüttelte sich wie schaudernd, um ihren Widerwillen zu unterstreichen. Innes überraschte die Bemerkung. Als Dr. Frasers Tochter hatte Louise doch gewiß reichlich Zeit gehabt, sich an die Vorstellung
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