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Eine Hochzeit im Dezember: Roman (German Edition)

Eine Hochzeit im Dezember: Roman (German Edition)

Titel: Eine Hochzeit im Dezember: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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daß das brennende Schiff inzwischen geräumt war. Es würde irgendwie an der Küste stranden. Er blickte auf die Inhaltsangabe hinunter. Die Entzündung entwickelt sich in weniger als drei Tagen nach der Geburt, las er.
Das Heulen einer Fabriksirene schreckte ihn auf. Zwei Straßen weiter hielt eine Straßenbahn. Eine Frau auf einem Fahrrad fuhr direkt unter seinem Fenster vorbei.
Ein blendender Glanz, ein Lichtblitz, heller als alles, was Innes je gesehen hatte, verschluckte die Welt jenseits des Glases und traf die Augen wie ein Schlag. Mit einer fließenden Bewegung ließ Innes die Papiere fallen, riß den Arm in die Höhe, um seine Augen zu schützen, und drehte dem Fenster den Rücken.
Er hörte ein tiefes Grollen, eine Explosion von gewaltigem Ausmaß, und dann das Geräusch zerspringenden Glases. Er krümmte den Rücken gegen den Schmerz – Schüsse trafen ihn – und wurde durch die Luft geschleudert. Er hörte Metall kreischen und spürte, wie ihm die Kleider vom Leib gerissen wurden. Schützend hielt er die Arme über den Kopf.
Er fühlte einen Sog von so gewaltiger Kraft, daß er fürchtete, ihm würden alle Glieder ausgerissen. Er nahm Bewegung wahr, registrierte, daß es ihn in der Luft drehte. Er schlug krachend gegen einen senkrecht aufragenden Holzbalken und stürzte. Seine Schulter bekam das Schlimmste ab. Benommen blieb er liegen und verlor das Bewußtsein.
Als er zu sich kam – eine Minute später? fünf Minuten später? –, war seine Nase von Staub verstopft. Einen beängstigenden Moment lang glaubte er, ersticken zu müssen. Wie lange war er bewußtlos gewesen?
Er hustete. Er schneuzte sich. Er versuchte aufzustehen, aber es gelang ihm nicht. Was war geschehen? Wo war er? Er konnte sich an nichts erinnern.
Als er die Augen öffnete, sah er, daß er sich im Freien befand und doch in einem Gebäude, das ihm völlig unbekannt war. Es war, als wäre er in eine andere Welt gestoßen worden, an einen Höllenort, der ganz mit Staub bedeckt war. Keine drei Meter von der Stelle entfernt, wo er saß, war der Fußboden geborsten, die Holzdielen ragten zackig in die Höhe. Die Luft war verqualmt. Die Mauer neben ihm neigte sich so weit nach innen, daß er meinte, sie könnte keine Minute mehr halten. Durch ein gesprengtes Fenster sah er, daß er im oberen Stockwerk eines Hauses gelandet war. Kein Wohnhaus, dachte er beim Anblick der großen konischen Spulen mit Woll- und Baumwollgarn, die wild durcheinandergeschleudert dalagen. Eine Textilfabrik?
Er blickte nach oben. Von einem Dach war nichts mehr übrig.
Lange hörte Innes keinen Laut. Es war, als hätte die Welt aufgehört zu atmen.
Er erinnerte sich an einen Lichtblitz. An ein Feuer.
Er hatte brennende Schmerzen im Rücken. Als er nach hinten zu der schmerzenden Stelle griff, schnitt er sich an einer Glasscherbe. Ein Splitter hatte sich gleich unterhalb des Schulterblatts in seinen Rücken gebohrt. Er zog einen Socken aus – seine Hose und seine Schuhe waren ihm auf unerklärliche Weise abhanden gekommen – , polsterte damit seine Finger und versuchte, den Glassplitter zu erreichen. Er zog ihn heraus und schleuderte ihn weg, dann drückte er den Socken fest auf die Wunde.
Was in Gottes Namen war geschehen?
Auf einmal fielen ihm die Frasers ein. Er dachte an Hazel. War er aus dem Haus der Familie Fraser hinausgefegt worden? Und wenn ja, wo waren die Frasers geblieben?
Innes streckte ein Bein aus und versuchte, mit dem Fuß eine Rolle mit grobem Garn zu sich heranzuholen. Doch er stieß die Rolle versehentlich weg. Schnell faßte er mit der Hand nach, packte die Rolle und zog sie auf seinen Schoß. Im Rücken spürte er das Blut. Es floß aus der Wunde und durchweichte sein Unterhemd. So gut er konnte, drückte er seinen anderen Socken auf die offene Stelle und umschnürte seinen Oberkörper mit dem groben Garn, zog es zusammen, so fest wie möglich, ohne es zu zerreißen. Er mußte sehen, daß er in ein Krankenhaus kam. Er hatte keine Ahnung, wie tief die Verletzung war.
Merkwürdigerweise hatte er kaum Schmerzen, aber er fror jetzt. Er musterte sein kleines Eckchen Boden, das unversehrt geblieben war, und suchte nach irgendeinem Kleidungsstück. So viel Wolle und nicht einmal ein Tuch. Ein Bild seiner strickenden Mutter stand ihm plötzlich vor Augen. Unten schrie eine Frau, so markerschütternd, daß Innes erstarrte und sich eine ganze Weile nicht rühren konnte. Dann rief er hinunter, erhielt aber keine Antwort. Er bemerkte eine Art Lederschurz

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