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Eine Hochzeit im Dezember: Roman (German Edition)

Eine Hochzeit im Dezember: Roman (German Edition)

Titel: Eine Hochzeit im Dezember: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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mit kurzen Ärmeln an einem Haken. Als er mühsam aufstand, zog der Schmerz vom Rücken bis in die Beinmuskeln.
Auch im Gesicht hatte er Schmerzen. Er strich sich mit der Hand über die Wange und entdeckte, daß vom Wangenknochen bis zum Unterkiefer winzige Glassplitter in seinem Fleisch saßen. Einen nach dem anderen ertastete er sie und zog sie heraus. Er untersuchte das Innere seines Ohrs, fand dort aber nichts. Sich an einem Schrägbalken festhaltend, griff er über den geborstenen Boden hinweg und riß den Lederschurz vom Haken.
Jetzt, da er aufrecht stand, bot sich ihm jenseits der teilweise zerstörten Mauer gegenüber ein unglaublicher Anblick. Eine Flutwelle rollte über eine verwüstete Landschaft. Es war, als wollte der Ozean die Stadt erobern. Er beobachtete, wie das Wasser sich vorwärts schob und dann zurückwich.
Am Himmel bemerkte er einen Zeppelin, der sich bei näherem Hinsehen als thermische Wolke erwies, der Form nach einer Zirruswolke ähnlich, die Lichtblitze abgab. Er hörte ein Stöhnen von unten. Louise hatte recht gehabt, bei all ihrer Hysterie: Halifax schien von den Deutschen bombardiert worden zu sein.
Innes sah sich in den Ruinen des Speichers um, hoffte einen Weg hinunter zur Straße zu erkennen. Es war nur eine Frage der Zeit, wann diese bucklige Mauer einstürzen und den Rest des Gebäudes mit sich reißen würde. Angst, die er bisher nicht registriert hatte, trieb ihn, durch die Trümmer abwärts zu klettern. Er begann am ganzen Körper zu zittern.
Er fand eine Treppe, die noch begehbar war, auch wenn sie, aus der Mauer gerissen, so steil herabhing, daß der Abstieg beinahe senkrecht war. Er hielt sich mit dem gesunden Arm am Geländer fest und dachte nur, daß er schnellstens in ein Krankenhaus mußte. Immer noch lief das Blut aus der Wunde seinen Rücken hinunter, zwar nicht mehr so stark wie zuvor, aber der provisorische Druckverband war einfach nicht fest genug.
Er durchsuchte das Erdgeschoß des Hauses, ein bestürzendes Durcheinander aus zertrümmerten Gegenständen und Mauerbrocken. Er versuchte, die Frau zu finden, die geschrien hatte. Er hob Balken und zerbrochene Möbelstücke an. Er rief immer wieder.
Als sich nichts rührte, beschloß er, das Gebäude zu verlassen, und gelangte durch eine Fensteröffnung, in der kein Glas mehr war, zur Straße hinaus. Die Stadt war still wie ein Grab.
Das, dachte Innes, konnten nicht die Deutschen gewesen sein. Die Zerstörung war zu weitreichend, zu gleichmäßig. Die Straße, in der das Haus der Familie Fraser gestanden hatte, gab es nicht mehr. So weit Innes’ Blick reichte, waren die Häuser dem Erdboden gleichgemacht oder schwer zerstört, waren Dächer abgerissen, Mauern eingedrückt. Aus dem Himmel fiel ein Regen aus Asche und Trümmern. Telefonmasten hingen schief. Eine Rauchwolke stand hoch über der Stadt.
Zehn Meter entfernt sah Innes eine Frau, die unter einem Holzbalken eingeklemmt war. Auf bloßen Füßen suchte er sich einen Weg über verbogenes Metall, Glasscherben und geborstenes Holz zu der Stelle, wo die Frau lag. Ihr Gesicht war voll Blut, einziger Farbklecks in dieser Aschelandschaft. Aus ihren Augen stachen Glassplitter hervor. Er bückte sich zu ihr hinunter, um ihren Puls zu fühlen, aber da war nichts. Der Balken hatte ihren Brustkorb zertrümmert.
Ein kleines Mädchen von vielleicht zehn Jahren kam hinter einem umgestürzten Wagen hervor. Die Kleine war nackt bis auf einen Baumwollunterrock. Gesicht und Arme waren schmutzig, die blonden Haare versengt.
»Wo ist deine Mama?« rief Innes. Er richtete sich auf und lief zu ihr.
Das Mädchen starrte, an ihm vorbei, ausdruckslos ins Leere. Innes fragte sich, ob sie überhaupt sehen konnte. Er schwenkte seine Hand vor ihren Augen, und sie zwinkerte. »Komm, gib mir die Hand«, sagte er und griff einfach zu, als sie nicht reagierte. »Wir müssen etwas zum Anziehen für dich finden.«
Innes, der jetzt stark fröstelte, wußte, daß er ein Stück Stoff auftreiben mußte, um den Druckverband auf seiner Wunde zu verstärken. Als er und das Mädchen ein paar Schritte gegangen waren, fiel ihm die Tote unter dem Balken ein.
»Bleib hier«, sagte er zu dem Mädchen. »Rühr dich nicht von der Stelle. Ich bin gleich wieder da.«
Hastig kehrte er zu der Toten zurück und riß ihren Rock und das Unterkleid in Streifen. Er zog ihr Schuhe und Strümpfe aus.
Schon plünderte er die Toten.
Zurück bei dem kleinen Mädchen, reichte er ihr Schuhe und Strümpfe und befahl ihr, sie

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