Eine Hochzeit im Dezember: Roman (German Edition)
Bibliothek.
Aus seinen Gedanken gerissen, blickte Harrison auf. »Stimmt«, sagte er.
»Du warst eben ganz weit weg«, sagte Rob.
»Am anderen Ende der Welt. Hast du schon gefrühstückt?«
»Ich frühstücke nicht. Nie.«
»Ah, darum bleibst du so schlank«, sagte Harrison mit einem bewundernden Blick auf die lange, schmale Silhouette von Kaschmirpulli und Jeans.
»Lampenfieber«, sagte Rob und trat näher. Er schien gerade aus der Dusche zu kommen, sein Haar war noch feucht.
»Du hast Lampenfieber vor einem Konzert?« fragte Harrison.
»Jedesmal.« Rob blieb vor der Espressomaschine stehen und musterte sie. »Wie bekommt man das Ding in Gang?«
»Das ist unglaublich kompliziert«, sagte Harrison und stand auf. »Ich werde es dir abnehmen.«
Er drückte auf einen Knopf und zuckte mit den Schultern. Rob lächelte. »Ich weiß nicht, ob ich das geschafft hätte«, sagte er.
»Du wirst es schon lernen.«
Rob setzte sich Harrison gegenüber und schaute sich um. »Schön, nicht?«
»Sehr, ja.«
»Ich hatte keinerlei Ahnung von Noras verborgenen Talenten.«
»Ich glaube, wir erfahren diese Woche alle eine Menge Neues über uns«, meinte Harrison.
Rob nickte. »Nehmen wir dich zum Beispiel. Bis vor zwei Wochen hatte ich keine Ahnung, daß du in einem Verlag tätig bist.«
Sollte Harrison entgegnen, daß er bezüglich Robs Homosexualität ebenso ahnungslos gewesen war? Wollte Rob das Gespräch darauf bringen? Harrison konnte es nicht erkennen. »Mir gefällt dein Freund Josh«, sagte er also statt dessen.
»Er übt.«
»Er hat sein Cello mit?«
»Virtuell. Er sitzt auf einem Stuhl, macht die Augen zu, legt seine Finger auf imaginäre Saiten und stellt sich vor, er spiele.«
»Tatsächlich«, sagte Harrison. Er dachte an Beethoven, der Symphonien komponiert hatte, die er nicht hören konnte.
Rob schlug die Beine übereinander, und Harrison bemerkte die langen Socken, die Maßschuhe. Daß Rob sich auf dezente Eleganz verstand, war offensichtlich. Was Harrison interessierte, war, daß Rob ganz ein Mann seiner Zeit zu sein schien. Das schneeweiße Hemd unter dem Pullover mit dem V-Ausschnitt. Die Movado-Armbanduhr. Der elegante Haarschnitt, keineswegs auffallend, und doch durch ein paar aufstehende Haarspitzen vorn etwas Besonderes. Harrison nahm sich vor, ins Konzert zu gehen, sollte Rob nach Toronto kommen.
»Ich bewundere euch beide«, sagte er. »Ich bin leider nicht musikalisch.«
»Daran erinnere ich mich.«
Harrison lachte.
»Aber Stephen konnte gut singen«, sagte Rob. »Weißt du noch, der Abend, als er die Neil-Young-Nummer brachte?«
»Wahnsinn, ja, daran habe ich seit Jahren nicht mehr gedacht«, sagte Harrison.
»Ehrlich gesagt war ich eifersüchtig auf dich«, sagte Rob. »Ich habe heftig für Stephen geschwärmt.«
Harrison hielt seine Überraschung zurück. »Das haben wir doch alle«, sagte er leichthin.
»Einmal habe ich ihn den Strand entlanglaufen sehen«, fuhr Rob fort. »Ich stand oben auf der Klippe beim Rowan House und sah Stephen aus der Ferne näher kommen. Er hatte einen wunderbar langen Schritt und lief leicht und geschmeidig durchs Wasser. Für ihn schien es nichts zu geben als den Augenblick. Darum habe ich ihn beneidet.«
Harrison sagte nichts.
»Entschuldige«, sagte Rob. »Das ist sicher schwer für dich. Wir alle hier erinnern dich wahrscheinlich ständig an ihn.«
»Ein wenig, ja.«
»Wenn wir nur damals gewußt hätten, was wir jetzt wissen«, sagte Rob. »Daß er der eine unter uns war, der niemals auch nur einen Schluck hätte trinken dürfen. Er sagte oft, ein Bier sei eins zuviel, aber zwölf seien nicht genug.«
»Das hat er gesagt?« fragte Harrison. »Zu mir hat er mal gesagt, wenn er nur ein Bier trinke und dann aufhöre, fühle er sich beschissen.«
»Man kann diesem Schicksal nicht entkommen.«
»Nein, vermutlich nicht.«
»Aber, mein Gott, er war so ungeheuer witzig. Weißt du noch, wie Mitchell damals aus dem Klassenzimmer gerufen wurde und Stephen – er hat wirklich keine Gelegenheit ausgelassen! – sich vorn hinstellte und so tat, als wäre er Mitchell, und den Unterricht weiterführte? Er war besser als der Mann selbst. Dieses kleine Wippen in Mitchells Gang? Der Bostoner Akzent? Sogar sein Lachen hat er hingekriegt. Es war einfach genial.«
»Das hatte ich ganz vergessen.« Harrison lächelte bei der Erinnerung.
»Er hatte es wirklich in sich«, sagte Rob.
»Ja, er hatte es in sich«, sagte Harrison.
Danach war es lange still.
»Ich
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