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Eine Idee des Doctor Ox

Eine Idee des Doctor Ox

Titel: Eine Idee des Doctor Ox Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: ekz.bibliotheksservice GmbH
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Ereignisse des vorhergehenden Abends.
     Dem Einen fehlte sein Hut, den er in dem allgemeinen Wirrwarr verloren hatte, dem Anderen ein Rockzipfel, der ihm in dem Gedränge
     abgerissen war; diese vermißte einen seinen prünellfarbenen Schuh, jene ihre Sonntagsmantille, und durch alle diese sichtbaren
     Erinnerungszeichen kam den ehrlichen Bürgern nach und nach das Gedächtniß zurück, und eine Art Scham über ihre nicht näher
     zu qualificirende Aufwallung ergriff sie. Sie gedachten des gestrigen Abends etwa wie einer Orgie,in der sie die unbewußten Helden gewesen waren; man sprach nicht weiter davon und zog es sogar vor, nicht mehr daran zu denken.
    Am meisten verdutzt und consternirt war wiederum der Bürgermeister van Tricasse; er konnte andern Morgens, als er erwachte,
     seine Perrücke nicht finden. Lotchè hatte überall gesucht, aber ohne den mindesten Erfolg. Die Perrücke mußte auf dem Schlachtfelde
     geblieben sein.
    Sollte man sie durch den vereidigten Stadttrompeter Johann Mistrol ausrufen lassen? Nein! lieber sich in das Opfer fügen,
     als so den ersten Beamten der Stadt compromittiren! dachte der würdige Bürgermeister, als er schweren Kopfes, mit fiebernder
     Brust und matten Gliedern auf seinen Decken hingestreckt lag. Er verspürte nicht die geringste Neigung aufzustehen, und sein
     Hirn arbeitete an diesem einen Vormittag mehr, als vielleicht in den verflossenen vierzig Jahren zusammengenommen. Der sehr
     ehrenwerthe Herr van Tricasse durchlebte mit höchster Anstrengung seines Gedächtnisses alle Vorgänge während der gestrigen
     wunderbaren Vorstellung noch einmal; er brachte sie in Verbindung mit den bedauerlichen Thatsachen, die jüngst bei der Soiree
     des Doctor Ox vorgekommen waren, und suchte nach den Gründen der eigenthümlichen Erregbarkeit, die sich nun schon zu zweien
     Malen bei seinen achtungswerthesten Beamten ausgeprägt hatte.
    »Was geht denn vor? fragte er sich; welch Schwindel hat plötzlich meine friedliche Stadt erfaßt. Sind wir Alle zu Narren geworden,
     und soll unsere Stadt ein einziges, großes Irrenhaus sein? Wenn ich die Sache recht überdenke, wäre das gestern der geeignete
     Platz für uns gewesen; Notabeln, Räthe,Richter, Advocaten, Aerzte, Akademiker – Alle sind gestern einer ungeheuren Thorheit zum Opfer gefallen. Lag es an der höllischen
     Musik? Es ist unerklärlich! Und doch hatte ich nichts Außergewöhnliches gegessen und nichts getrunken, was solche Aufregung
     hätte hervorrufen können. Gestern Mittag einige Schnitten von einer zu scharf gebratenen Kalbskeule, einige Löffel Spinat
     mit Zucker, etwas Eierschnee und zwei Gläser mit Wasser verdünnten Dünnbiers; das konnte mir unmöglich zu Kopfe steigen! Nein,
     es muß etwas Unerklärliches sein, und da ich in jedem Fall für die Handlungen meiner Untergebenen verantwortlich bin, werde
     ich eine Untersuchung anstellen lassen.«
    Aber die von dem Municipalrath beschlossene Untersuchung blieb ohne jeden Erfolg. Obgleich die Thatsachen klar zu Tage lagen,
     entgingen doch die Ursachen dem Scharfsinn der Behörden. Uebrigens war bereits wieder vollständige Ruhe bei den Geistern eingekehrt,
     und diese ließ schnell die Ausschreitungen und Excesse vergessen. Die Localblätter vermieden sogar, über diese Angelegenheit
     zu sprechen, und der im Intelligenzblatt von Quiquendone enthaltene Bericht über die Vorstellung gedachte nicht mit der kleinsten
     Anspielung der wunderlichen Fieberwallung einer zahlreichen Versammlung.
    Wenn nun auch die Stadt ihr gewöhnliches Phlegma wieder angenommen hatte und, dem Anschein nach, so flämisch wie zuvor war,
     merkte man doch, daß der Hauptcharakterzug und das Temperament der Einwohner sich nach und nach modificirten. Man hätte wirklich
     dem Arzte Dominique Recht geben können, der da behauptete, daß den Quiquendonianern »Nerven wüchsen«.
    Suchen wir uns indessen die Sache zu erklären. Die unbestreitbare und unbestrittene Veränderung ging immer nur unter gewissen
     Bedingungen vor sich. Wenn die Quiquendonianer durch die Straßen ihrer Stadt schlenderten oder in frischer Luft auf freien
     Plätzen und am Vaar entlang lustwandelten, waren sie dieselben guten, kalten, pedantischen Leute wie ehemals, und ebenso auch,
     wenn sie sich auf ihre Wohnungen beschränkten, theils mit der Hand, theils mit dem Kopfe arbeiteten und nebenher weder etwas
     thaten noch dachten. Ihr Privatleben war schweigsam, träge, vegetirend wie ehedem, kein Zank, kein

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