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Eine Idee des Doctor Ox

Eine Idee des Doctor Ox

Titel: Eine Idee des Doctor Ox Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: ekz.bibliotheksservice GmbH
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beugen.
    Gewöhnlich pflegen Epidemien gesondert aufzutreten; befallen sie die Menschen, so bleiben die Thiere verschont; und werden
     diese von der Krankheit ergriffen, so leiden doch die Pflanzen nicht darunter. Nie hat man erlebt, daß ein Pferd von den Blattern
     oder ein Mensch von der Rinderpest ergriffen wurde; auch pflegen die Hammel von der Kartoffelkrankheit verschont zu bleiben.
     Aber hier schienen alle Naturgesetze sich zu verleugnen. Nicht nur modificirten sich Charakter, Temperament und Ideen der
     Quiquendonianer selbst, sondern auch bei ihren Hunden, Katzen, Rindern, Pferden, Eseln und Ziegen war der Einfluß der Epidemie
     zu bemerken, als wäre ihr Lebenskreis ein anderer geworden. Sogar die Pflanzen »emancipirten« sich, wenn man uns gütigst diesen
     Ausdruck gestatten will.
    In den Obst- und Gemüsegärten zeigten sich diemerkwürdigsten Symptome; die Schlingpflanzen und Klettergewächse rankten sich mit nie dagewesener Kühnheit um Zaune und Spaliere;
     die Ziersträucher buschten sich mit fast tropischer Kraft, und Stämmchen wurden zu Bäumen. Das kaum gesäete Korn hob sein
     kleines grünes Haupt empor und wuchs in derselben Zeit, wo es ehemals einige Linien erreicht hatte, ebenso viele Zoll. Man
     zog zwei Fuß lange Spargel, erntete Artischocken so groß wie Melonen, und die Melonen wiederum erreichten den Umfang von Kürbissen,
     während diese so groß wie Pfeben 5 wurden. Es gab Pfeben, die, ohne zu lügen, nicht kleiner waren wie die Sturmglocke, also etwa neun Fuß im Durchmesser hatten.
     Der Kohl stand in förmlichen Gebüschen auf den Gemüsefeldern, und die Champignons sahen aus wie Regenschirme.
    Die Früchte blieben an Wachsthum nicht hinter den Gemüsen zurück; um eine Erdbeere zu essen, mußte man sich zu zweien daran
     machen, und wollte man eine Birne vertilgen, so waren vier Personen dazu nothwendig. Die Weintrauben kamen jener phänomenalen
     Weintraube gleich, die Le Poussin so bewunderungswürdig in seinem Retour des envoyés à la terre promise gemalt hat.
    Aehnliches beobachtete man an den Blumen; die großen Veilchen verbreiteten einen so kräftigen Wohlgeruch wie nie zuvor; die
     ungeheuren Rosen blühten in lebhafteren Farben als jemals, die Fliedersträuche wurden zu undurchdringlichem Buschholz, und
     Geranium, Maßliebchen, Thalias, Kamelien und Rhododendrons wuchsen über die Gartenwege hinweg und erstickten einander! Das
     Gartenmesser warlängst als ein völlig unzureichendes Instrument erkannt worden. Und in welche Aufregung versetzten die Tulpen, diese theuern
     Liliaceen, die die Freude der Flamänder sind, ihre Blumenzüchter und Liebhaber! Der würdige van Bistrom wäre eines Tages fast
     hintenüber gefallen, als er in seinem Garten eine einfache Tulipa gesneriana erblickte, die in riesenhafter, ungeheuerlicher Größe prangte, und deren Kelch einer ganzen Rothkehlchenfamilie zum Nest
     diente.
    Die ganze Stadt eilte herbei, um das Wunder anzustaunen, und man erkannte der Tulpe einstimmig den Namen Tulipa quiquendonia zu.
    Aber ach! so schnell diese Pflanzen, Früchte sowohl wie Blumen, sich zeitigten und kolossale Verhältnisse annahmen, so köstlich
     intensiv ihr Duft und ihre Farben waren und Auge und Geruchssinn berauschten, so schnell starben sie auch wieder hin und senkten
     nach kurzen Stunden verwelkt, erschöpft und todtesmatt ihre Häupter.
    Dies war auch das Loos der berühmten Tulpe; auch sie verdorrte nach wenigen Tagen üppigen Glanzes.
    Und bald verfielen auch die Hausthiere, vom Hofhund bis zum Spanferkel, vom Stieglitz im Käfig bis zum Truthahn, demselben
     Schicksal.
    Wir müssen hier übrigens die Bemerkung einschalten, daß diese Thiere in gewöhnlichen Zeiten ebenso phlegmatisch waren wie
     ihre Herren. Hunde und Katzen vegetirten in Quiquendone weit mehr, als daß sie lebten. Nie bemerkte man an ihnen eine Regung
     der Freude oder des Zorns; ihre Schwänze blieben unbeweglich, als wären sie von Bronze, und seit undenklichen Zeiten hatte
     Niemand von einemBiß oder einer Kratzwunde gehört. Tolle Hunde hielt man für Phantasiegebilde und erwähnte ihrer neben Greifen und anderen
     Thieren aus der Menagerie der Apokalypse.
    Aber welche Veränderung war während der wenigen Monate in der Thierwelt Quiquendones vorgegangen! Hunde und Katzen begannen
     ihre Zähne und Krallen zu zeigen, so daß in Folge davon mehrere Executionen vorgenommen werden mußten. Zum ersten Mal nahm
     ein Pferd das Gebiß zwischen die Zähne und ging

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